
Europa – das war einst eine Idee. Eine große, vielleicht zu große, zu gutmütig gedachte Vision. Frieden durch Handel, Verständigung durch Normierung, Einheit durch Bürokratie. Es war das Europa der krummen Gurken, der quietschenden Übersetzungsbudgets und der Kunst, 27 Meinungen in einem Nebensatz unterzubringen, ohne dass ein einziger Mensch weiß, worum es eigentlich geht. Man redete viel von Vielfalt, noch mehr von Werten, und am allermeisten davon, dass man nie wieder das machen wolle, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Lieblingsbeschäftigung des Kontinents gehörte: Krieg.
Und nun, 2025, tritt da ein gewählter Vertreter auf, der kein postpubertärer Internetprovokateur ist, kein AfD-Halbliterat mit Reichsflagge im Souterrain, sondern der Chef der Europäischen Volkspartei – Manfred Weber, ein Mann, dessen Frisur zuverlässig wie das europäische Beihilferecht ist – und sagt, ganz gelassen, aber mit staatsmännischem Brustton: „Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen.“
Aha.
A-Ha.
Wie bitte?
Zugegeben, es ist nur ein Satz. Aber mit Sätzen fängt der Wahnsinn meistens an. Die Weltgeschichte ist voll von ihnen: „Geben Sie mir die Kontrolle über das Geld einer Nation…“ – „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten…“ – „Mit mir wird es keine Impfpflicht geben…“
Und jetzt also: Kriegswirtschaft.
Nicht etwa „Verteidigungsbereitschaft“, „strategische Resilienz“ oder „Rüstungskoordinationskompetenzzentrum“ – das wären die üblichen politisch-kastrierten Euphemismen, weichgekocht und EU-kompatibel. Nein. Jetzt wird reingebuttert. Jetzt kommt die rhetorische Panzerfaust. Jetzt ist Schluss mit Wertegelaber – jetzt wird gedacht wie im Krieg. Oder zumindest so getan.
Vom Zynismus als Methode
Man stelle sich vor: Eine Wirtschaft – also das Gefüge, in dem Menschen arbeiten, konsumieren, erfinden, hoffen, planen – soll jetzt auf „Krieg“ eingestellt werden. Nicht etwa auf Frieden, Nachhaltigkeit oder Gerechtigkeit (zugegeben, diese Worte sind inflationär überstrapaziert). Nein, auf Krieg. Ein Begriff, der bis vor Kurzem im politischen Diskurs nur als historisches Mahnmal diente, als dunkles Kapitel, das bloß nie wieder aufgeschlagen werden sollte. Nun wird es zum Handbuch. Und wer es nicht mitliest, gilt als naiv, putinsympathisch oder als erklärungsbedürftiger Idealist aus dem vorvorletzten Jahrhundert.
Panzer statt Patente, Raketen statt Renten – Die neue Prioritätenliste
Was bedeutet „Kriegswirtschaft“ eigentlich konkret? Die Geschichte gibt uns genug Beispiele. Kriegswirtschaft heißt: zivile Produktion wird zugunsten militärischer Bedürfnisse zurückgefahren. Rüstungsproduktion bekommt Vorrang. Löhne werden eingefroren, Märkte reguliert, Ressourcen zentral gelenkt. Kurz gesagt: Der Staat greift durch – und zwar mit dem Hammer, nicht mit dem Pinsel.
Und hier kommt der eigentliche Wahnsinn: Es geschieht nicht im Notstand, nicht unter realem Beschuss, nicht im Bombenhagel, sondern in vorauseilender Paranoia, in aktivistischem Präventivfuror. Man will die Gesellschaft auf den Krieg einstimmen wie ein Dirigent, der den apokalyptischen Tusch schon einleitet, bevor die ersten Geigen überhaupt gestimmt sind.
Während Krankenhäuser schließen, Bildungssysteme verrotten, Sozialstaaten zerbröseln und ganze Generationen unter der Last von Inflation, Wohnungsnot und Perspektivlosigkeit taumeln, wird in Brüssel also darüber philosophiert, wie man möglichst effektiv Raketenstandorte digitalisiert.
Frieden ist nicht mehr sexy
Vielleicht liegt das Problem auch einfach darin, dass Frieden keine Lobby mehr hat. Er ist schwer zu vermarkten. Frieden bringt keine Schlagzeilen, keine Zuschüsse, keine populistischen Likes. Frieden ist mühsam, langweilig, dialogintensiv. Und was ist langweiliger als ein außenpolitisches Gespräch mit einem Botschafter, wenn man stattdessen einen Rüstungsvertrag auf TikTok präsentieren kann?
Die ehemals pazifistischen Kräfte Europas – Grüne, Sozialdemokraten, liberale Philosophen mit Schafwollpulli – sie alle haben längst kapituliert. Sie marschieren jetzt mit, im Chor der Wehrwirtschaftsfreunde. Sie singen mit, so lange das Lied nicht zu martialisch klingt. Hauptsache, es wird in gendergerechter Sprache formuliert.
Weber ist also kein Ausreißer. Er ist ein Symptom. Ein Seismograf für den tiefen Wandel europäischer Politik: Raus aus der strategischen Ambivalenz, rein in die psychopolitische Hochrüstung. Wer zögert, hat verloren. Wer differenziert, ist verdächtig. Wer an Diplomatie glaubt, lebt geistig in den 1990ern – einer Zeit, in der Russland noch ein Gaspartner war und die NATO ein Anachronismus.
Heute ist sie wieder Religion. Und wehe, du lästerst.
Geschichtsvergessenheit als Zeitgeist
Die Ironie liegt offen zutage: Ausgerechnet Europa, das sich rühmt, aus zwei Weltkriegen gelernt zu haben, beginnt, mit den Begriffen dieser Kriege zu operieren. Man hat aus dem Wort „Frieden“ eine Phrase gemacht und aus „Krieg“ eine Option. Das ist nicht nur gefährlich, das ist auch absurd.
Denn echte Kriegswirtschaft – wie sie etwa im Dritten Reich, in der Sowjetunion oder in den USA der 1940er Jahre etabliert wurde – bedeutete nicht bloß eine politische Willenserklärung. Sie bedeutete Kontrolle. Unterdrückung. Propaganda. Entindividualisierung. Und, nicht zu vergessen: ein Ziel, das mit Blut bezahlt wurde.
Wer heute mit dieser Vokabel spielt, sollte wissen, was sie kostet.
Aber Wissen ist selten geworden. Stattdessen herrscht das Gefühl. Die Angst. Das Sendungsbewusstsein. Man hat keine Zeit für Reflexion, wenn der nächste Konflikt schon wartet. Die Philosophie wird geopfert – zugunsten der Geopolitik.
Vom Denken im Krieg zum Krieg im Denken
Und so marschieren wir also, im Gleichschritt des politisch Sagbaren, in eine Zeit, die gefährlich nahe an das heranreicht, was wir nie wieder wollten. Nicht, weil Panzer durch Brüssel rollen. Noch nicht. Sondern weil sich unser Denken wandelt. Weil der Krieg im Kopf beginnt. In unseren Begriffen. In unseren Vorstellungen. In unserer Sprache.
„Kriegswirtschaft“ – das klingt effizient. Zielgerichtet. Stark. Es klingt nach Tatkraft in Zeiten der Gefahr. Aber es ist in Wahrheit ein Offenbarungseid. Eine Kapitulation des Intellekts.
Und die vielleicht tragischste Pointe: Es wird verkauft als Fortschritt.
Denn der neue Wahnsinn trägt Krawatte, spricht fließend Bürokratendeutsch – und hält „Kriegswirtschaft“ für eine Vision.
In Wahrheit aber ist sie nur eins:
Die Parole des Denkverzichts.