Kontaktschuld und digitaler Pranger

Willkommen in der postmodernen Inquisition

In einer Zeit, in der Fakten und Meinungen auf den virtuellen Schlachtfeldern der sozialen Netzwerke mit der Wucht eines Vorschlaghammers aufeinandertreffen, feiert eine alte Tradition ein unheilvolles Comeback: die Kontaktschuld. Diese perverse Spielart der kollektiven Schuldzuweisung erinnert verdächtig an die finstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte, als allein der bloße Umgang mit dem falschen Menschen das persönliche Schicksal besiegelte. Hexenjagd 2.0, aber diesmal auf Twitter, Instagram und Co.

Die Kontaktschuld ist nicht nur wieder da – sie hat sich technologisch und moralisch aufgerüstet. Wer heute das Pech hat, mit jemandem gesehen zu werden, dessen Ansichten auch nur einen Hauch von den moralischen Standards der vermeintlichen Mehrheit abweichen, findet sich schneller am digitalen Pranger wieder, als er „Cancel Culture“ sagen kann. Das Verbrechen? Nicht etwa eigene Überzeugungen, sondern bloße Assoziationen, die mit der Präzision einer Guillotine soziale Exekutionen vollstrecken. Willkommen im Zeitalter der hypermoralischen Selbstgerechtigkeit!

Ein moralischer Sündenbock für die Massen

Früher baute man für den Pranger noch liebevoll Holzgestelle auf Marktplätzen, und es gab wenigstens noch die Chance, ein paar faule Tomaten zu fangen. Heute funktioniert das viel einfacher – mit einem Retweet, einem Screenshot oder einer missgünstig formulierten Anklage. Die Meute ist bereit, die Mistgabeln und Fackeln sind digitalisiert, und der Pranger selbst? Ein cleveres System von Algorithmen und Hashtags, das den reuelosen Sünder öffentlich zur Schau stellt.

Der Prozess der Kontaktschuld ist simpel und effizient: Du hast mit jemandem gesprochen, der irgendwann einmal irgendetwas Falsches gesagt hat? Du hast ein Foto geliked, das von jemandem gepostet wurde, der in einer politischen Debatte das falsche Argument gewählt hat? Willkommen im Inferno des digitalen Prangers! In der modernen Arena der Entrüstung zählt nicht, was du sagst oder tust, sondern wer neben dir steht. Und so wird man schnell zum Komplizen in Verbrechen, die man nie begangen hat, nur weil man einen vermeintlich verunreinigten digitalen Fingerabdruck hinterlassen hat.

Wenn Empörung zur Währung wird

Der Mob, der sich um den Pranger versammelt, ist eine faszinierende Entität. Man könnte fast glauben, wir hätten es hier mit einem Bienenstock zu tun, in dem jedes Mitglied im Gleichklang agiert. Doch im digitalen Empörungssturm ist der Schwarm kein Werkzeug des Kollektivs – er ist die Verkörperung eines moralischen Dschungels, in dem jede Biene hofft, die Königin zu sein. Empörung ist die neue Währung, und das Konto füllt sich, je lauter man schreit.

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Die soziale Dynamik funktioniert so: Jemand wirft die erste Anklage in die Runde. Schon formieren sich moralische Elitetruppen, die jede Schattierung des Verdachts aufgreifen und in hocheffizienten Schockwellen durch die Netzwerke schießen. Die Empörung ist so automatisiert, dass man sich fast die Frage stellen könnte, ob hinter jedem zweiten Shitstorm nicht ein Bot steckt, der versehentlich auf das Wort „Problematisch“ programmiert wurde.

Und die Menschen – ach ja, die Menschen – sie heben die Mistgabeln, die sie stets griffbereit auf dem Nachttisch liegen haben, denn nichts ist süßer als die Selbstvergewisserung der eigenen Tugendhaftigkeit. Es geht dabei nicht um den Akt der Vernunft, sondern um das Ritual der Distanzierung. „Schaut her! Ich stehe auf der richtigen Seite, nicht wie dieser Ketzer dort, der einmal auf einer Konferenz war, auf der auch jemand anderes gesprochen hat, der vielleicht irgendwann mal falsch lag!“ Moralischer Exhibitionismus im digitalen Zeitalter.

Ein Relikt der bürgerlichen Gesellschaft

In einem System, in dem die Schuld nicht aufgrund von Taten, sondern aufgrund von Kontakten verteilt wird, ist die Unschuldsvermutung nichts weiter als ein altmodischer Anachronismus. Einst eine der Grundfesten des Rechtsstaates, in der digitalen Ära zur bloßen Fußnote degradiert, die in Kommentarspalten allenfalls höhnisches Gelächter hervorruft. „Unschuldig, bis die Gegenseite das Gegenteil beweist“ – wer braucht sowas noch, wenn man mit einem Mausklick moralische Urteilssprüche fällen kann?

Was zählt, ist nicht mehr die Frage, ob jemand tatsächlich schuldig ist. Es reicht, dass jemand irgendwie, irgendwo, irgendwann einmal in Berührung mit einer potenziell kontroversen Idee oder Person gekommen ist. Schon folgt die Verurteilung auf dem Fuß – eine Mischung aus hypermoralischer Hysterie und digitalem Scherbengericht.

Und wehe, du wagst es, diese Methoden infrage zu stellen! Schon wirst du selbst in den Morast der Verdächtigung gezogen. „Wie, du verteidigst XY? Na, das kann nur bedeuten, dass du selbst verdächtig bist!“ Die Angst, selbst ins Visier zu geraten, hält das System in Gang. Das Recht auf eine differenzierte Meinung? Feinsäuberlich ins digitale Archiv der Geschichte verschoben.

Auf der Suche nach dem moralisch Unbefleckten

Die größte Ironie der Kontaktschuld und des digitalen Prangers ist, dass sie auf einer gefährlichen Illusion aufbauen: der Idee, dass es einen moralisch reinen Zustand gibt, den es zu verteidigen gilt. Es ist der alte Traum der perfekten Tugendhaftigkeit, den bereits die Puritaner pflegten – nur mit dem Unterschied, dass die heutigen Puritaner keinen Gott mehr anbeten, sondern sich selbst.

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In dieser Welt zählt nicht nur das, was du tust, sondern was alle um dich herum tun – und, noch absurder, was deren Freunde tun könnten. Diese Art von Schuld ist nicht nur persönlich, sie ist ansteckend. Du wirst schuldig, indem du mit den Falschen redest, dich am falschen Ort aufhältst oder das falsche Buch liest. Der moralische Anspruch wird so hochgeschraubt, dass niemand mehr gut genug sein kann – und genau darin liegt die toxische Faszination.

Stell dir vor, du bist auf einer Party. Du unterhältst dich mit jemandem, den du gerade erst kennengelernt hast. Netter Mensch, vielleicht ein bisschen schräg, aber das Gespräch läuft gut. Dann sagt er einen Satz, der nicht ganz ins Raster passt, irgendwas über Meinungsfreiheit, aber du bist schon mit dem nächsten Getränk beschäftigt. Zack! Irgendjemand filmt, schnappt diesen Satz auf, und plötzlich bist du der, der „mit jemandem gesprochen hat, der das gesagt hat“. Willkommen im Club der moralisch Verdächtigen! Hier gibt es keine Gnade, nur den permanenten Druck, den Reinheitsgrad der eigenen sozialen Blase zu maximieren.

Algorithmen als moralische Instanzen

Natürlich wäre das digitale Zeitalter nicht komplett, wenn wir nicht auch den technologischen Aspekt dieser Misere beleuchten würden. Algorithmen, die heiligen Orakel des Internets, entscheiden, was uns angezeigt wird und wen wir „liken“ sollen. Aber in ihrer gnadenlosen Objektivität wirken sie wie die modernen Hohepriester, die darüber wachen, dass auch ja niemand außerhalb der erlaubten Bahnen denkt.

Das Problem? Die Algorithmen sind nicht schlauer als die Menschen, die sie programmiert haben. Sie fördern genau das, was unsere primitive Neigung zur Empörung ohnehin antreibt. Sie sind das Öl im Feuer der Kontaktschuld: Schnell, effizient und unbarmherzig fördern sie alles zutage, was irgendwie Anstoß erregen könnte. Hast du einmal einen Artikel über ein kontroverses Thema gelesen? Glückwunsch, der Algorithmus wird dir jetzt regelmäßig alles präsentieren, was dazu passt – einschließlich der Leute, die das kritisieren. Und so wird die Schlinge der digitalen Prangerjustiz immer enger.

Die Ironie liegt darin, dass der Algorithmus nicht urteilt. Er ist neutral, und doch führt seine Neutralität zu einem System, das Empörung belohnt und Differenzierung bestraft. Der Algorithmus ist nicht böse – er ist einfach nur effizient. Aber in seiner Effizienz perpetuiert er das, was wir als moralische Entrüstungskultur längst institutionalisiert haben.

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Die digitale Reinigung der Menschheit

Am Ende bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass die digitale Prangerkultur und die Kontaktschuld nicht auf eine bessere Gesellschaft abzielen. Sie sind keine Werkzeuge der Aufklärung, sondern der Selbstbestätigung. Sie beruhigen den Menschen in seinem unablässigen Bestreben, sich auf der „richtigen Seite“ zu wissen. Und das, liebe Leser, ist die eigentliche Tragödie dieser modernen Inquisition. Sie verhindert, dass wir uns mit der eigentlichen Frage auseinandersetzen: Was bedeutet es, wirklich Verantwortung zu übernehmen – nicht nur für uns selbst, sondern für unsere Mitmenschen?

Wir leben in einem Zeitalter, in dem der digitale Pranger einen neuen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Wo jeder vermeintlich Unberührte im Internet seinen Platz im Mittelpunkt der moralischen Arena beanspruchen kann. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Das Einzige, was wir gewinnen, ist eine verfeinerte Form des gesellschaftlichen Misstrauens.

Möge der digitale Pranger noch viele Generationen überdauern, denn die Menschen werden immer nach Sündenböcken suchen. Mögen wir den Mut finden, in dieser dunklen Zeit noch zu lachen, denn am Ende sind es die echten Gespräche und das Verständnis, die die einzig wertvollen Dinge in einem Meer aus Empörung bleiben. So schließe ich mit einem Aufruf zur Vernunft: Lasst uns die Schlangen der Kontaktschuld im Griff behalten und vielleicht, nur vielleicht, in einer Welt leben, in der wir wieder zu den Dingen stehen können, die wir für richtig halten, ohne Angst vor dem digitalen Pranger.

Quellen und weiterführende Links

Lanier, Jaron. Ten Arguments for Deleting Your Social Media Accounts Right Now. Henry Holt and Company, 2018.

Turkle, Sherry. Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. Basic Books, 2011.

Carr, Nicholas. The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains. W.W. Norton & Company, 2010.

Hedges, Chris. Empire of Illusion: The End of Literacy and the Triumph of Spectacle. Nation Books, 2009.

Tufekci, Zeynep. Twitter and Tear Gas: The Power and Fragility of Networked Protest. Yale University Press, 2017.

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