
Die fleißige Faulheit der Politik im Wahlkampf – Politiker entdecken die Baustellen, die sie selbst errichtet haben
Es ist eine alte, eine verdächtig vertraute Geschichte: Es naht der Wahlkampf, und plötzlich, wie von göttlicher Eingebung getroffen, enthüllen Politiker das goldene Buch des Versäumten. Ihre Hände, die sich über die letzten Jahre in den tiefen Taschen der Gleichgültigkeit ausgeruht haben, greifen auf einmal eifrig zum Mikrofon. In einem Crescendo der Selbstgerechtigkeit offenbaren sie, was in den vergangenen vier Jahren alles vernachlässigt wurde, und verkünden unter kräftigem Augenzwinkern, dass „jetzt aber wirklich“ gehandelt werden müsse.
Da wird entdeckt, dass Schulen überfüllt, Brücken morsch und Krankenhäuser unterbesetzt sind. An der Grenze zur völligen Überraschung prangert man die Probleme an, die seit der letzten Wahl nur noch dringlicher geworden sind, als seien sie in dieser Zeit wie Unkraut gewachsen, völlig außerhalb des Einflussbereichs der Regierenden. Man könnte fast meinen, die Politiker selbst seien die unbeteiligten Beobachter eines Schauspiels, das in einem Paralleluniversum stattgefunden hat. Ein Stück, bei dem sie, von einem rätselhaften Zauber gebannt, der Handlung nicht beiwohnen konnten – und erst jetzt, da der Zauber gelöst ist, entdecken sie mit theatralischer Empörung die Tragödie, die sich in ihrer eigenen Abwesenheit abgespielt hat.
Und so stecken die Protagonisten mitten im Wahlkampf wieder in ihren maßgeschneiderten Anzügen und geben sich ganz der Dringlichkeit hin, mit der sie nun endlich „etwas tun“ werden. Doch das Publikum, geübt in der Kunst der skeptischen Zuschauer, erkennt die Wiederholung. Denn genau dieses „etwas“, das nun mit großer rhetorischer Inbrunst versprochen wird, ist dasselbe „etwas“, das sie beim letzten Mal schon zugesagt haben – nur diesmal eben dringender, größer und, wie immer, „unabdingbar“.
Das Theater der Versäumnisse
Hier drängt sich der Verdacht auf, dass Politik nicht mehr ist als ein kunstvolles Theater, in dem Versäumnisse nicht einfach passieren, sondern inszeniert werden. Im wohlfeilen Glanz der Kameras und Mikrofone setzen sich die Volksvertreter in Szene, als seien sie die tragischen Helden eines Dramas, das stets dasselbe ist, dessen Wiederholung aber niemand zu bemerken scheint. Als Illusionskünstler nehmen sie das Publikum in einer Art kollektiven Gedächtnisverlust gefangen: Die Versprechen der letzten Wahl verblassen unter dem künstlichen Licht der neuen Schlagworte, und die Fragen, warum das nun Entdeckte nicht längst umgesetzt wurde, verschwinden im Nebel der Rhetorik.
Die Steigerung der Absurdität ist vollendet, wenn sich Politiker aufrichtig darüber empören, dass niemand zuvor auf die brillanten Lösungen gekommen ist, die sie jetzt aus dem Hut zaubern. Die beste Ironie daran ist wohl, dass viele ihrer Wähler tatsächlich vergessen haben, wie oft sie bereits mit den gleichen Phrasen abgespeist wurden. So schwingt der Politiker das Wort wie einen Zauberstab, als könnte er damit vergessen machen, dass die „dringenden Probleme“ mit einem Mausklick in den Erinnerungen von vier Jahren Wahlversprechen nachzulesen wären.
Die Meisterwerke der Kunstgeschichte mögen Rembrandt, Da Vinci und Van Gogh geschaffen haben – doch die wahre Kunst des Illusionstheaters gehört den politischen Redenschreibern, die in wenigen Wochen aus dem Bild eines trägen Apparats einen dynamischen Retter der Nation formen. Es ist die perfekte Synthese aus fleißigem Fühlen und faulen Fakten.
Abends werden die Faulen fleißig
Und so beginnt die Nacht der langen Absichten, in der die sonst oft von dringlichen Sitzungen und zähen Debatten ermüdeten Politiker nun ungeahnte Energien aufbringen. In einer furiosen Eile, wie sie nur die Aussicht auf eine drohende Wahlniederlage entfachen kann, versprechen sie Reformen, Investitionen und Kurskorrekturen, die mit einer Geschwindigkeit daherkommen, dass man glauben könnte, sie seien tatsächlich im Begriff, alles rückgängig zu machen, was sie in den Jahren zuvor unterlassen haben.
Es ist eine Art kollektiver Leistungsrausch, in dem sie nicht nur einsehen, was hätte getan werden müssen, sondern gleichwohl verkünden, es morgen in Angriff zu nehmen – vorausgesetzt, versteht sich, sie bekommen die Gelegenheit, es weiterhin zu verschieben. Die Bürger, die von dieser emsigen Umtriebigkeit überwältigt sind, schütteln schlaftrunken die Köpfe, während sie die ewig gleichen Worte des Wandels, der Tatkraft und der Reformation hören, die klingen wie das schale Echo der letzten Wahlen.
Es gibt da nur ein kleines Problem: Der seltsame Rausch der Geschäftigkeit dauert kaum länger als die heiße Phase des Wahlkampfs. Kaum ist das Wahlergebnis gesichert oder das Büro wieder bezogen, verfällt die nächtliche Arbeitswut in ihren gewohnten Schlafmodus, und die Dringlichkeiten des letzten Wahlkampfs verwandeln sich wieder in den Schatten der Bürokratie.
Politisches Pfuschwerk und das Phantom der Reformen
Doch warum geht das Spiel so endlos weiter? Vielleicht liegt es daran, dass die Öffentlichkeit längst akzeptiert hat, dass das politische System ein Konstrukt ist, das an den eigenen Versäumnissen wächst wie eine Pflanze, die nur durch Vernachlässigung gedeiht. Jene Probleme, die einmal erkannt und benannt wurden, werden auf magische Weise Teil des Systems, das sie zu bekämpfen vorgibt. Es ist ein Paradoxon, das in der Politik zur perfiden Kunstform erhoben wurde: Durch nichts anderes blüht die politische Landschaft so üppig wie durch die Unkrautbüschel der eigenen Versäumnisse.
Der Wahlkampf wird so zu einer Art Reinigungsritual, in dem die Politiker ihre eigene „faustische“ Schuld bekennen, um sich von ihr zu erlösen – und dieselbe Schuld sogleich in einem Ritual der Wiederholung zu begehen. Man könnte von einer selbsterhaltenden Fehlerroutine sprechen, einem Perpetuum Mobile des politischen Verschleißes, das sich aus sich selbst ernährt und neue Missstände produziert, deren Aufdeckung und Linderung in die nächste Legislaturperiode verschoben wird. Es ist ein System, das so lange verspricht, bis es alle vergessen haben – oder, besser gesagt, bis die nächste Wahl vor der Tür steht.
Ein Spätherbst voller Tatendrang, ein Winter der Resignation
So stehen wir, die Wähler, am Ende wieder da, während sich das politische Schauspiel allmählich im Dunkel der kommenden Jahre verliert. Was bleibt, ist die vage Hoffnung auf ein Erwachen, auf das längst überfällige „Jetzt aber wirklich!“ – wohl wissend, dass das Einzige, was mit Sicherheit regelmäßig kommt, die Routine des Entdeckens und Vergessens ist. Man könnte es eine charmante Tradition nennen, eine Art Jahreszeitenspiel im politisch-grauen Winter.
Wenn der Wahlkampf vorüber ist und der nächste Alltag einkehrt, bleibt einzig das Wissen, dass in vier Jahren erneut das große Entdecken beginnen wird. Und bis dahin lässt sich nur hoffen, dass uns der Humor bleibt, diese schier endlose Komödie des „fleißigen Faulseins“ mit einem sanften Lächeln zu ertragen.
Quellen und weiterführende Links
- Politische Rhetorik und Wahlversprechen: Ein Überblick – Hans Schmidt (Politik-Verlag)
- Der Zyklus der Reformversprechen in Wahlkämpfen – Forschungsbericht des Politikinstituts für Öffentliche Wahrnehmung
- Wahlkampffieber: Warum Politiker nur zu Wahlen entflammt sind – Ein Essay im Magazin der Zeit
- Rosa Luxemburg: Reden und Schriften über den Widerspruch im politischen System