Im Anfang war das Wort

– und am Ende die Zensur

„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ – das hätte man auch als Überschrift über den neuen Koalitionsvertrag setzen können. Doch sie wissen es ganz genau. Wenn CDU/CSU und SPD unisono davon sprechen, man müsse künftig die „bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ unterbinden, dann sollte es einem eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Nicht wegen der Worte – die sind weich, wie politischer Beton im Frühstadium –, sondern wegen des Duktus: Bewusst. Falsch. Tatsachen. Behauptungen. Eine gefährliche Mixtur aus Absicht, Moral und Definitionsmacht. Das Böse tarnt sich bekanntlich gern als Notwendigkeit.

Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Die neue Koalition setzt nun die Grenze der Sprache dort, wo sie beginnt, sich zu befreien. Das Narrativ soll gezähmt, die Abweichung geächtet, die freie Rede in ein Korsett gezwungener Wahrheitsliebe geschnürt werden. Eine Meinungsfreiheit, die sich staatlich lizensieren lassen muss, ist keine. Sie ist die gepfählte Leiche einer einst freien Gesellschaft – geschminkt, dekoriert und unter Aufsicht.

Inquisition Reloaded – mit WLAN und Pressemitteilung

Es hat etwas geradezu Rührendes, wie man sich auf das „staatsferne“ Wirken beruft. Eine Medienaufsicht, der man den Säbel des Gesetzes in die Hand drückt, soll gleichzeitig „staatsfern“ sein – das ist, als wolle man den Henker als neutralen Vermittler im Streit zwischen Kopf und Guillotine vorstellen.

Man erinnert sich: Am 22. Juni 1633 stand Galileo Galilei vor einem Tribunal. Nicht etwa, weil er ein Ketzer war, sondern weil er der Wahrheit zu sehr vertraute. „Und sie dreht sich doch“, soll er gemurmelt haben – in einem Moment, der mehr Wahrheit enthielt als tausend Lehrpläne. Die Kirche, das absolute Wahrheitsmonopol jener Zeit, konnte es sich nicht leisten, Recht zu behalten. Sie musste Recht haben. Der Unterschied ist fatal.

Heute sind es keine Mönche mehr, sondern Faktenchecker, Think-Tanks, NGOs mit Subventionsanschluss, die uns erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der moderne Index verbotener Gedanken ist algorithmisch sortiert, nicht in Pergament gebunden. Aber das Prinzip bleibt: Wer anders denkt, denkt gefährlich – und wer gefährlich denkt, soll zum Schweigen gebracht werden.

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Der Tod der Aufklärung in mehreren Akten

Der Traum der Aufklärung – jener große, europäische, unvollendete Traum – bestand darin, dass der Mensch sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedient. Kant formulierte es in seiner berühmten Schrift „Was ist Aufklärung?“ mit jener schnörkellosen Klarheit, die dem preußischen Geist innewohnte. Heute müsste man hinzufügen: Der Mensch bediene sich seines Verstandes, sofern er durch keine Community-Richtlinien, Faktenfinder oder Plattformregeln daran gehindert wird.

Der Philosoph Voltaire, der über seinen Federkiel mehr Schlagkraft entfaltete als mancher General über seine Kavallerie, schrieb:
„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“
Heute hingegen würde Voltaire gelöscht, gesperrt, entmonetarisiert – oder in die rechte Ecke gestellt. Sein Verbrechen? Prinzipientreue. Seine Schuld? Der Glaube an das Wort.

Doch Worte sind gefährlich. Und sie sind mächtig. Deshalb hat jede Macht ihre Zensoren. Nur nennt man sie heute anders: Content-Moderator. Ethikrat. Taskforce gegen Desinformation. Ein ganzes Orchester der Umerziehung spielt die Symphonie der Konformität, und wer nicht im Takt marschiert, wird zum Störgeräusch erklärt.

Das Recht auf Irrtum als Hochverrat

Was ist Wahrheit? Diese Frage hallt seit Jahrhunderten durch die Hallen der Philosophie, von Pilatus bis Popper. Die neue Bundesregierung scheint sie gelöst zu haben: Wahrheit ist, was der Gesetzgeber für wahr erklärt – im Zweifel nach Beratung durch ein Gremium staatsnaher NGOs. So wird ein Gedanke nicht mehr durch seine innere Konsistenz, durch Widerspruchsfestigkeit oder Empirie zur Wahrheit, sondern durch institutionelle Deklaration.

Doch der Irrtum – jener alte, wertvolle, ungeschliffene Bruder der Wahrheit – darf nicht mehr sein. Das Experimentelle wird strafbar, das Hypothetische suspekt. Eine Gesellschaft, die das Recht auf Irrtum aufgibt, verliert nicht nur ihren Erkenntnisdrang – sie gibt sich selbst auf. Sie wird zu einem Museum toter Ideen, in dem nur noch kuratierte Gedanken gezeigt werden dürfen.

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Die Dialektik der Desinformation: Wer bestimmt das Wahre?

Trofim Lyssenko war kein Wissenschaftler, sondern ein Funktionär mit Laborzugang. Seine Theorien über Vererbung passten zur marxistischen Ideologie – also wurden sie zur Wahrheit erklärt. Der brillante Nikolai Wawilow widersprach – und starb im Gefängnis. Die Wahrheit hatte gesiegt, doch sie hatte kein Gesicht mehr. Nur eine Uniform.

Was unterscheidet die Wahrheit von der Lüge? Oft nur der Zeitpunkt, zu dem sie ausgesprochen wird – und der Kontext, in dem sie erlaubt ist. Die Wahrheit ist eine Diva: launisch, verletzlich, aber unverzichtbar. Wenn man ihr aber befiehlt, sich zu benehmen, wie es der Regierung genehm ist, dann wird sie zur Karikatur ihrer selbst. Dann mutiert sie zur „Wahrheitsindustrie“, zur hochoffiziellen Version der Welt – geprüft, zugelassen, aber steril.

Die digitale Guillotine: Wer nicht passt, wird gelöscht

Der Philosoph Michel Foucault sprach vom „Dispositiv der Macht“ – jenen unsichtbaren Mechanismen, die bestimmen, was gesagt werden darf, gedacht werden kann und geglaubt werden muss. Heute liegt dieses Dispositiv nicht mehr im Staatsarchiv, sondern in den Rechenzentren von Google, Meta & Co. Der Staat hat ausgelagert, was einst seine heiligste Pflicht war: den Schutz der Debatte. Stattdessen: Outsourcing an GONGOs. Government-Organized Non-Government Organizations. Ein sprachlicher Treppenwitz aus der Werkstatt der Postdemokratie.

Was bleibt, ist ein strukturelles Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit – das Gegenteil dessen, was eine Demokratie ausmacht. Vertrauen wäre, der Öffentlichkeit zuzutrauen, sich ihre Meinung selbst zu bilden. Misstrauen bedeutet: Jeder Bürger ein potenzieller Lügner. Jede Aussage ein Verdachtsmoment.

Letzter Akt: Applaus vom Tribunal

Am Ende stehen wir vor einem absurden Theater. Die Regierung ruft: „Vertraut uns, wir schützen eure Freiheit!“ Und während sie spricht, bindet sie ihr Publikum an einen Stuhl, knebelt es mit wohlformulierten Paragrafen und nennt es dann „Demokratiepflege“.

Kafka hätte seine helle Freude daran.
Brecht würde ein Theaterstück schreiben, in dem das Volk am Schluss klatscht, weil man ihm erklärt hat, es sei jetzt freier als je zuvor – obwohl es sich nicht mehr bewegen darf.
Und Orwell? Der würde nur nicken, eine Zigarette anzünden und sagen: „Ich hab’s euch doch gesagt.“

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