
Eine Würdigung zum 100. Geburtstag von Michael Goldmann – Der Mann, der Eichmann verhörte
Am Tisch saß ein Mann mit Brille. Er sprach leise, höflich, fast pedantisch. Ihm gegenüber: einer der größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts. Adolf Eichmann, Bürokrat der Vernichtung, Organisator der Deportationen, Architekt der „Endlösung“. Zwischen ihnen: kein Schreien, kein Spucken, keine Rache. Nur Fragen. Und ein Tonbandgerät.
Der Mann, der da fragte, hieß Michael Goldmann. Heute, an seinem 100. Geburtstag, lebt er noch immer. Klar im Kopf, ruhig in der Sprache, beinahe unheimlich gelassen angesichts der Dämonen, denen er begegnet ist. Goldmann gehört zu jener Generation, die das Böse nicht nur sah – sondern ihm ins Gesicht blickte und sagte: „Erklären Sie mir, warum.“
Ein Leben im Schatten der Geschichte
Geboren 1925 in Breslau, überlebte Michael Goldmann das, was für Millionen zum Tod wurde: Auschwitz. Als junger Jude von den Nazis verfolgt, gefoltert, entrechtet, entmenschlicht – und doch überlebend, mit nichts als seiner Muttersprache, einem wachen Geist und einem brennenden Wunsch: zu verstehen.
Nach dem Krieg emigrierte er nach Palästina, wurde Polizist im jungen Staat Israel – und stieg später zum Beamten im Geheimdienst Shin Bet auf. Und dann, 1960, nach Eichmanns spektakulärer Entführung aus Argentinien: der Auftrag seines Lebens.
Es war Goldmann, der Adolf Eichmann über Wochen hinweg verhörte. Kein Jurist, kein Folterknecht, kein Racheengel – sondern ein Zeitzeuge, der Fragen stellte. Klare, ruhige, tödlich präzise. Ihm verdanken wir das nüchterne, erschütternde Porträt eines Mannes, der „nur Befehle befolgte“. Ein Täter, der in Goldmanns Protokollen so gefährlich banal wirkt, dass Hannah Arendt später ihre berühmte Formel prägte: „Die Banalität des Bösen.“
Der Mann, der nie laut wurde
Was Michael Goldmann von vielen unterscheidet: Er hat nie den Ruhm gesucht. Keine Talkshows, keine Bestseller, keine glitzernde Erinnerungskultur. Vielleicht, weil er wusste, dass die Wahrheit durch Mikrofone oft nicht klarer wird, sondern greller.
Goldmann blieb zurückhaltend. Er sprach, wenn man ihn fragte. Er schrieb keine Abrechnung, sondern Berichte. Seine Stimme war kein Echo, sondern ein Original. Und vielleicht braucht eine Erinnerungskultur, die oft zwischen Betroffenheitskitsch und Geschichtsmüdigkeit pendelt, genau solche Stimmen: leise, aber unerschütterlich.
Das Gedächtnis, das nicht schweigt
Heute, mit 100 Jahren, lebt Michael Goldmann zurückgezogen in Israel. Seine Erinnerungen trägt er wie ein Archiv in sich – ordentlich, schwer, sorgfältig beschriftet. Wenn er spricht, wird Geschichte plötzlich wieder Gegenwart. Dann hört man nicht nur, was war – sondern versteht, wie es wurde.
Er war nie ein Richter über Eichmann. Aber ein Zeuge. Und das, was er sah, vergaß er nie. Darum ist sein 100. Geburtstag kein bloßer historischer Meilenstein – sondern ein Mahnmal aus Fleisch und Blut. Solange er lebt, lebt das Gedächtnis.
Ein Jahrhundert – ein Mensch – ein Vermächtnis
Michael Goldmann ist nicht nur der Mann, der Eichmann verhörte. Er ist einer der letzten lebenden Fäden zwischen dem Heute und jenem bodenlosen Damals. Sein Leben ist keine Heldengeschichte. Es ist eine Chronik der Würde im Angesicht des Grauens. Ein Jahrhundertmensch, nicht weil er laut war – sondern weil er sich weigerte zu schweigen, wo andere schwiegen.
Zum 100. Geburtstag verneigen wir uns vor einem Mann, der nichts vergaß und nie vergaß, Mensch zu bleiben. Es gibt keine Statue von ihm. Kein Film. Kein Museum. Nur seine Stimme. Und vielleicht ist das – in einer Welt des ewigen Lärms – das Wertvollste, was bleibt.
Michael Goldmann (geb. 1925): Zeuge der Wahrheit. Chronist des Grauens. Mensch mit Rückgrat. Möge seine Stimme nie verstummen.