Humanitäre Logistik als Geisel

oder: Wenn die Erpressung das neue Gesprächsangebot ist

Es war einmal ein kleiner Finger – sagen wir, ein humanitärer Korridor –, der der Weltgemeinschaft gereicht wurde. Nicht aus Großmut, sondern aus dem moralischen Reflex heraus, der alle wohlmeinenden Demokratien seit Jahrzehnten plagt: der unstillbare Drang, sich auch dort verantwortlich zu fühlen, wo man weder Kontrolle noch Konzept hat. Und siehe da, kaum war der kleine Finger ausgestreckt, griff bereits die ganze Hand zu. Mit festem Griff, entschlossenem Blick und einem Forderungskatalog, wie man ihn sonst nur von schwäbischen Vereinsvorständen oder autokratischen Machthabern kennt. Die Hamas – jene tragisch-absurde Mischung aus politischer Bewegung, militärischem Arm und PR-Katastrophe auf zwei Beinen – hat nun erklärt, sie werde erst wieder verhandeln, wenn mindestens 250 Hilfstransporter täglich in den Gazastreifen rollen. Täglich. Als wäre humanitäre Hilfe ein Pizza-Abo. Als wäre die humanitäre Katastrophe nicht Resultat der eigenen Tunnelsystem-Architektur und Raketenspielchen, sondern ein externer meteorologischer Zwischenfall, für den man dringend UN-Schirme braucht.

Das perfide ist: Der moralische Reflex der westlichen Welt – insbesondere Europas, das bekanntlich lieber spendet als spricht, lieber mahnt als handelt – reagiert prompt. Denn wie sagt man so schön in Brüssel: „Wir dürfen nicht die Zivilbevölkerung bestrafen.“ Was in der Theorie stimmt, in der Praxis jedoch bedeutet, dass man mit größter logistischer Sorgfalt die Infrastruktur beliefert, über die sich eine Terrororganisation erst erneuert, dann verschanzt und schließlich erneut verhandelt – von einer Position aus, die ihr überhaupt erst durch diese Hilfe ermöglicht wurde. Willkommen im moralischen Bermuda-Dreieck der Nahostpolitik.

Der Westen zwischen Mitleidsethik und Realitätsflucht – Ein Balanceakt auf der Rasierklinge der Naivität

Es ist das alte Dilemma des Westens, besonders des europäischen, besonders des deutschen: Der Versuch, gleichzeitig moralisch integer und historisch unschuldig zu erscheinen. Das führt unweigerlich dazu, dass man Verhandlungen mit Organisationen führt, deren Charta mehr antisemitische Passagen enthält als ein Telegram-Kanal im dritten Schnapsstadium. Aber Hauptsache, es wird wieder gesprochen. Hauptsache, man hat irgendwas „eingefädelt“. Dass man dabei längst nicht mehr zwischen Täter, Zivilbevölkerung und rhetorischer Nebelgranate unterscheidet, ist nebensächlich – wichtig ist das Gefühl, etwas getan zu haben. Europa ist heute ein Kontinent der Gefühle: Das Handeln ist diffus, das Ergebnis ungewiss, aber das gute Gefühl – das ist sicher. Die Hamas weiß das. Und spielt auf dieser Klaviatur wie ein betrunkenes, aber effektives Krokodil: laut, ungehobelt, aber überraschend zielgenau.

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Denn wie sieht das denn aus, wenn 250 LKWs pro Tag gefordert werden? Es sieht aus wie eine humanitäre Maximalforderung, aber in Wahrheit ist es eine strategische Positionierung. Man nennt das auf dem Basar Ankertechnik: Fordere das Unmögliche, um später das Unverschämte als Kompromiss zu verkaufen. Dass Europa dabei erneut das tut, was es am besten kann – nämlich nachgeben, während es so tut, als verhandelte es – ist tragischer Bestandteil eines Spiels, dessen Regeln man längst nicht mehr kennt, geschweige denn beeinflusst.

Das Kanzleramt als Erfüllungsgehilfe unfreiwilliger Außenpolitik

Die Nachricht, dass diese Forderungen über Vermittler kolportiert wurden – an wen genau, bleibt natürlich so wolkig wie eine Sommerrede im Bundestag –, lässt dennoch aufhorchen. Denn in einer idealen Welt wäre das Kanzleramt nicht Anlaufstelle für Gruppen, die Raketen auf Zivilisten schießen und sich dann über die zerstörte Wasserversorgung beschweren. In einer idealen Welt wäre das Kanzleramt der Ort, an dem man rote Linien zieht, nicht rote Teppiche ausrollt. Aber in Deutschland ist die Außenpolitik bekanntlich der Teil der Regierung, der am liebsten vom Innenministerium ignoriert wird und vom Wirtschaftsministerium ausgehebelt – da bleibt nur noch der moralische Fluchtpunkt: Humanität. Der letzte Joker in einem Spiel, in dem alle Karten längst markiert sind.

Statt einer klaren Haltung gibt es nun wieder diplomatische Dialektik im Dreivierteltakt: Ja, man wolle helfen – aber ohne sich instrumentalisieren zu lassen. Ja, man sehe das Leid der Bevölkerung – aber auch das Existenzrecht Israels. Ja, man setze sich für Frieden ein – aber wisse, dass es Partner braucht, mit denen Frieden möglich ist. Und während man sich rhetorisch im Konjunktiv windet, rollt der nächste Konvoi – ach was: die nächsten zweihundertfünfzig – durch die südlichen Grenzübergänge, flankiert von der Hoffnung, dass irgendwo am Horizont die Vernunft auftaucht wie ein UN-Blauhelm auf Heimaturlaub.

Das humanitäre Dilemma: Wenn Mitgefühl zur Munition wird

Die tragische Pointe in all dem ist, dass die Bevölkerung im Gazastreifen tatsächlich leidet – in einem Ausmaß, das sich in westlichen Komfortzonen nicht einmal andeutungsweise nachfühlen lässt. Aber das Leiden dieser Menschen ist längst selbst Teil der politischen Waffe geworden. Je schlimmer es ihnen geht, desto größer der Druck auf Israel. Je mehr Not, desto mehr moralische Erpressungspotenzial gegenüber den hilfsbereiten Demokratien. Der Gazastreifen ist längst nicht mehr nur ein Ort – er ist eine mediale Projektionsfläche, ein globales Traumaspektakel, ein Dauerbrenner in der feuilletonistischen Empörungsliturgie. Und die Hamas? Sie hat verstanden, dass sie keine militärischen Schlachten gewinnen muss. Sie muss nur die richtigen Bilder erzeugen. Und möglichst viele davon.

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In dieser Hinsicht ist die Forderung nach 250 Hilfstransportern pro Tag keine moralische Bitte – sie ist eine PR-Strategie. Denn wer „Hilfsgüter“ fordert, stellt sich rhetorisch auf die Seite des Humanismus, auch wenn der eigentliche Zweck darin besteht, die eigene Kontrolle über das Gebiet aufrechtzuerhalten. Und der Westen? Er schluckt diesen Widerspruch wie eine Aspirin gegen den Weltschmerz, zufrieden mit der Illusion, dass Geben stets Gutes bedeutet. Eine gefährliche Gleichung in einer Welt, in der auch die Hilfe längst Teil der Kriegsführung geworden ist.


Fazit: Die Kapitulation der Prinzipien im Tarnnetz des Helfersyndroms

Was bleibt also? Ein bitteres Bild: Eine Terrororganisation, die mit Hilfeforderungen taktische Ziele verfolgt. Eine Bevölkerung, die zwischen den Fronten leidet. Und eine europäische Öffentlichkeit, die sich moralisch überlegen fühlt, während sie mit jeder Lieferung die Bedingungen verschärft, unter denen überhaupt noch verhandelt wird. Man kann das als Tragödie sehen. Oder als Farce. Wahrscheinlich ist es beides zugleich – und genau das macht es so unausweichlich.

Denn der kleine Finger wurde längst gegeben. Die ganze Hand wurde genommen. Und jetzt – verlangt man den Arm, die Schulter, den Oberkörper gleich mit. Und Europa? Es zuckt noch nicht einmal.

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