Gesetz oder Gewissen? Israels riskantes Experiment

Die Nachricht, dass die Knesset in erster Lesung einem Gesetzesentwurf zur Einführung der Todesstrafe für «Terroristen» zugestimmt hat, klingt wie das Finale eines Dramas, dessen Autor das Genre verwechselt hat: statt Tragödie und Ethik eine Polit-Soap mit Extra-Patina. Faktisch ist das keine Fantasie – das Parlament hat in der ersten Runde zugestimmt, Stimmenzählung und Initiatoren sind dokumentiert – und zwar in einem Klima, das seit Oktober 2023 ohnehin alles in sich aufsaugt und radikalisiert. Die Abstimmung war kein heimlicher Samtpfotenakt, sondern ein offener Tritt ans Gewissen: 39 zu 16 lauteten die Zahlen der ersten Lesung, und die prominentesten Fürsprecher sind Vertreter der Regierung und der ultranationalistischen Fraktionen. Diese Fakten sind nicht meine Meinung; sie sind protokolliert.
Die heilige Verpflichtung: Wir lassen niemanden zurück – und was das bedeutet
Israel hat über Jahrzehnte ein heiliges Gelübde kultiviert: „Wir lassen niemanden zurück.“ Ein Sentiment, das Soldaten die Gewissheit gibt, dass die Gemeinschaft sie abholen wird; eine moralische Garantie, die in den militärischen Alltag eingebacken ist und in Schreien und Blumen auf Bahnhöfen manifest wird. Gleichzeitig ist diese Praxis ein blindes Investment: Hunderte Gefangene wurden immer wieder freigetauscht, im guten Glauben an Rückholung – und zu oft war das Ergebnis, dass ehemalige Freigelassene erneut töteten. Das ist die bittere Ökonomie des Hostage-Tauschhandels: humanitäre Pflichten kollidieren mit langfristiger Sicherheitsrealpolitik, und die Rechnung kommt später, nicht sofort. Wer fordert, das Versprechen dürfe nie gebrochen werden, übersieht, dass Versprechen auch Konsequenzen haben – für andere Menschen; und für die Moral selbst.
Die perverse Logik der Erpressung: Geiseln, Bilder, Presse und Politik
Hamas und ähnliche Akteure betreiben dabei ein pervertiertes Geschäftsmodell, das auf zwei einfachen Regeln basiert: erstens Zivilisten als menschliche Schutzschilde oder als lebende Kulissen zu verwenden, um bei Schäden sofort die Nachrichtenbilder zu monopolisieren; zweitens Menschen als Hebel einzusetzen – Geiseln, deren Freilassung in der globalen Rallye der Sympathien und Empörungs-Öffentlichkeit massiv Druck erzeugt. Diese Doppelstrategie bringt dem Täter politisches und operatives Kapital: Mit Bildern vom Leid instrumentalisiert man die Reaktion des Gegners, mit Geiseln erpresst man Deals, die letztlich die Rückkehr mancher Täter in die Freiheit ermöglichen. Es ist hässlich. Es ist wirksam. Und es ist, so bitter das klingt, ein kalkuliertes Produkt der modernen Kriegsführung mit Publikum.
Die Todesstrafe als politisches Ventil – Wunschdenken, Abschreckung oder Rache?
Die jetzt vorgeschlagene Todesstrafe will genau dieses Geschäftsmodell zerstören: Wer Geiseln tötet oder in Massen mordet, so das Versprechen der Befürworter, könnte künftig damit rechnen, nicht Jahrzehnte hinter Gittern zu vegetieren, sondern mit seinem Leben zu bezahlen. Für die, die emotional bereits den Schuldschein in der Hand halten, hat das die Attraktivität einer einfachen, finalen Lösung – ein politisches Ventil, das zornige Wählerinnen und Wähler beruhigt. Doch die Frage, die eine Demokratie beschäftigen muss, lautet: Macht die Androhung oder Vollstreckung des Todes die Gesellschaft gerade sicherer – oder macht sie sie ärmer an Rechtsstaatlichkeit, an moralischem Kapital und an dem, was wir Gerechtigkeit nennen? Historisch ist die Todesstrafe in Israel die Ausnahme – die zivilrechtliche Praxis hat sie seit den 1950er Jahren faktisch abgeschafft, und die einzige zivile Exekution war die Eichmann-Affäre. Das ist kein sentimentaler Luxus, sondern ein juristisches Ethos, das nun auf dem Prüfstand steht.
Die Welt, die wegschaut – und die Medien, die laut werden sollen
Die Empörung über die Bilder, die Schreie, die Geiseln ist selektiv. Als im Oktober 2023 Massenmorde verübt wurden und Menschen verschleppt wurden, waren viele Staaten und Medien kurzzeitig aufmerksam – doch die Aufmerksamkeit verfliegt, die Erinnerung fragmentiert sich, und für manche ausländische Beobachter bleibt das Drama ein ferner Bericht. Wenn deutsche Staatsbürger betroffen sind, erwarten wir Empathie; wenn es aber um palästinensische Tote und hungernde Kinder geht, entlädt sich dieselbe Öffentlichkeit oft in anderen Kanälen – in Protesten, in Hilfsaufrufen, in Solidaritätsdemonstrationen. Dass letztere in Teilen auch politisch instrumentalisiert werden, dass NGOs, UN-Organisationen und Aktivistengruppen politisch operieren – das ist unbestritten. Und ja: Wenn Hilfslieferungen zu einer Waffe gemacht werden, ist die Empörung berechtigt. Nur ist es wichtig, zwischen berechtigter Kritik an Instrumentalisierung und der Reduktion ganzer Bevölkerungen zu unterscheiden – damit Empathie nicht zur Propagandawaffe wird.
Der Zynismus des Humanitären: Wenn Hilfe zum Schlachtfeld wird
Ein besonders deprimierendes Kapitel ist die Instrumentalisierung von Hunger und Hilfe: Wenn Hilfsgüter an den Grenzen verrotten, weil bewaffnete Gruppen sie als Druckmittel verwenden, dann wird der humanitäre Rahmen zur Schachfigur. Gleichzeitig sehen wir, wie Anstrengungen zur Entschärfung – zum Beispiel humanitäre Geldfonds oder Logistikkorridore – politisiert und blockiert werden. Die Folge ist ein doppelter Zynismus: der derjenigen, die Hunger als Waffe einsetzen, und derjenigen, die mit moralischer Entrüstung reagieren, aber konkrete Logistikmaßnahmen torpedieren, weil die politische Agenda wichtiger erscheint als das Leben vor Ort. So wird moralische Entrüstung zu Theater – und das Theater nimmt echten Menschen das Essen weg.
Was Proteste, «Free Palestine»-Rufe und unsere Medienkultur damit zu tun haben
Dass die Verabschiedung des Gesetzes Proteste provozieren wird – mit Slogans, Bannerbildern und kontroversen Solidaritätsbekundungen – ist nicht überraschend. Menschengruppen, die den Gesetzesvorschlag als diskriminierend oder als Eskalation ansehen, werden laut werden. Unsere Medien werden das kommentieren, viele werden empört sein, andere erleichtert, wieder andere analytisch. Das ist das demokratische Geschäft: laute Reaktionen sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Aber Vorsicht: Der Spiegel kann verzerren. Wenn man die Debatte reduziert auf «Pro-Strafe» vs. «Anti-Strafe», verliert man die Komplexität aus dem Blick – die Opfer, die Rechtsfragen, die Alternativen zur Abschreckungsrhetorik. Eine Demokratie darf hereinkommen in den Sog der einfachen Rhetorik nicht ohne kritische Selbstprüfung.
Zwei Wahrheiten, ein bitteres Fazit
Zwei Dinge sind zugleich wahr und unverrückbar: Erstens, Menschen, die Angehörige verloren haben, verdienen zuallererst Mitgefühl und Anerkennung ihres Leids. Zweitens, einfache gesetzgeberische Antworten auf tiefe, strukturelle Probleme sind selten dauerhaft wirksam. Ein Gesetz, das die Todesstrafe wieder ins Spiel bringt, ist ein politisches Dokument – aber kein Wunderheilmittel gegen Terrorismus, gegen die politischen Wurzeln der Gewalt oder gegen die internationalen Mechanismen, die Tauschhandel mit Gefangenen möglich machen. Wenn wir die Demokratie und die Menschlichkeit verraten, um kurzfristig Ruhe zu erkaufen, dann gewinnen wir vielleicht an Schlaf, verlieren aber an moralischem Kapital. Und das, so zynisch das klingen mag, ist ein Preis, den Gesellschaften oft zu spät bemerken.
Ein schalkhaftes Nachspiel: Was wäre, wenn das Gesetz wirklich alles löst?
Stellen wir uns für einen Moment vor, das Gesetz werde verabschiedet, und die Todesstrafe wirke wie ein juristisches Antivirus: Kein Terrorist mehr, keine Tauschgeschäfte, alle Geiseln zurück, Frieden vielleicht. Diese Fantasie ist beruhigend und simplifiziert zugleich. Die Realität wird widerspenstig bleiben: Rechtsfragen, internationale Reaktionen, mögliche Radikalisierung, Einsatz in besetzten Gebieten – all das sind Variablen, die nicht per Dekret verschwinden. Also ja: Schön wäre es, wenn ein Gesetz ein Geschäftsmodell zerstört. Noch schöner wäre es, wenn Politik nicht nur auf Rache gebaut wäre, sondern auf Strategien, die nachhaltige Sicherheit und menschliche Würde zugleich fördern. Bis dahin bleibt uns die düpierte Mischung aus Wut, Sehnsucht und Satire – und die Pflicht, laut, klug und literarisch darüber zu streiten.

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