„Gedanken und Gebete“

Das ritualisierte Verstummen in Satzform

Kaum sind die Sirenen verklungen, kaum ist der Tatort mit Flatterband in behördlicher Pietät eingeschnürt, kaum haben die Fernsehsender ihre Eilmeldungsschleifen mit „Was wir bisher wissen“ und „Hier sehen Sie die ersten Bilder“ gefüttert, da beginnt auch schon das alte Theater. Mit der Präzision eines mittelmäßigen Uhrwerks, das man alle paar Wochen nachstellen muss, setzen die Stimmen der politischen Akteure ein – erst zögerlich betroffen, dann betroffen zögerlich, und schließlich im Kanon leerformelhafter Solidaritätsbekundung. „Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen“, murmeln sie, als würden sie es nicht zum hundertsten Mal sagen, als wäre es nicht ein Refrain, den sie wie ein schlechtes Mantra herunterleiern, bei dem der Sinn mit jedem Sprechen weiter verdunstet. Was hier stattfindet, ist kein Mitfühlen, sondern das sprachliche Gegenteil: eine sprachlich perfekt getarnte Form der inneren Emigration.

Es ist, als wären Politikerstatements nach einem Amoklauf das politische Äquivalent zur automatischen Antwortmail: „Ich bin momentan nicht erreichbar, aber mein Gewissen hat eine Benachrichtigung erhalten.“ Es ist alles da – das Betroffenheitskorsett, die unvermeidliche Floskel vom „unfassbaren Geschehen“, die scheinheilige Mahnung zur Besonnenheit, als ob Empörung selbst schon Gewalt wäre, und natürlich, ganz am Ende, der Joker: „Jetzt ist nicht die Zeit für politische Debatten.“ Wann dann, möchte man brüllen, wenn nicht jetzt?

Wenn die Sprache in den Ruhestand geht

Die Politiker, die nun vor Kameras stehen, wirken wie schlecht gecastete Nebenfiguren in einem endlosen Remake einer sehr schlechten Serie. Dieselben Sätze, dieselben Stirnfalten, dieselbe ernste Stimme mit dem feierlichen Timbre eines sonntäglichen Wetterberichts. Man erwartet fast, dass sie beim dritten Satz aus der Rolle fallen, kurz aufblicken und sagen: „Waren Sie eigentlich gestern auch im Tatort überrascht, dass der Kommissar der Mörder war?“ – so wenig hat ihre Rede mit der Wirklichkeit zu tun. Die Sprachhülsen, in die sie ihr vermeintliches Mitgefühl pressen, erinnern mehr an Produktbeschreibungen eines besonders langweiligen Staubsaugers: effektiv, effizient, emotionslos.

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Es ist ein rhetorischer Tanz auf dünnem Eis, bei dem niemand zu stolpern scheint – nicht, weil sie so sicher wären, sondern weil sie nie wirklich gegangen sind. Ihre Worte schreiten nicht voran, sie schleichen. Und sie schleichen nicht in die Zukunft, sondern zurück in eine Vergangenheit des Vergessens. Diese Statements sind sprachgewordene Ausweichmanöver, syntaktische Fluchtversuche aus einer Realität, der sie sich politisch längst entzogen haben.

Gedanken, Gebete – und sonst?

Und dann kommt er, der Höhepunkt der Hilflosigkeit, als wäre es ein sakrales Manöver zur Selbstentschuldigung: „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern.“ Ein Satz, der in seiner theologischen Anmaßung von einer solchen Seelenruhe kündet, dass man meinen könnte, er sei eigens dafür erfunden worden, die eigene Untätigkeit zu verklären. Als ob das Gebet im politischen Kontext mehr sei als ein rhetorisches Sedativum für die Öffentlichkeit, als ob ein frommer Gedanke ein Kind reanimieren könnte, das gerade noch von einem Projektil durchsiebt wurde.

Nein, das Gebet ist hier nicht Ausdruck von Glaube, sondern die letzte Bastion der Verantwortungslosigkeit. Ein Gedankenversprechen an ein Publikum, das längst gelernt hat, zwischen Satz und Handlung zu unterscheiden. Denn während der Innenminister noch salbungsvoll – sollte der Täter noch am Leben sein – von „der vollen Härte des Rechtsstaats“ faselt, wird am nächsten Tag im Parlament der Gesetzesantrag zur Verschärfung des Waffenrechts vertagt – aus Rücksicht auf „die aktuell angespannte emotionale Lage“. Ironie ist keine rhetorische Figur mehr. Sie ist politische Praxis.

Die politische Waschmaschine – mit Schleudergang

In den Stunden nach einem Amoklauf mutieren politische Parteien zu PR-Agenturen mit eingebautem Weichzeichner. Die Pressestellen laufen heiß, Textbausteine werden zu Textfassaden gestapelt, und jede Empörung über strukturelles Versagen wird mit dem Argument „nicht instrumentalisieren!“ abgewehrt, als wäre die Debatte über Ursachen bereits ein Missbrauch der Toten. Es ist ein rhetorisches Perpetuum mobile: Der Täter war „psychisch labil“, die Waffen „legal erworben“, die Polizei „schnell vor Ort“, und die Stadt, das Land oder die ganze Gesellschaft „steht unter Schock“. Und während man all das aufzählt, hofft man, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums kürzer ist als die Halbwertszeit einer Entrüstung.

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Manchmal, in besonders transparenten Momenten, bricht dann doch ein Funken Wahrheit durch: wenn ein Lokalpolitiker in der dritten Talkshow des Abends ins Mikro lallt, man müsse „die sozialen Netzwerke in den Griff bekommen“, während der Täter seine Tatwaffe aus dem heimischen Schrank gezogen hat, den Papa ihm legal überlassen hatte – „zur sportlichen Nutzung“, versteht sich. An diesem Punkt ist die Satire nicht tot. Sie ist einfach zu faul, sich noch aufzuregen.

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