Ein Spektakel der Edlen und der Schuldigen

Biennale Venedig 2024 – Willkommen im Museum der kollektiven Buße

Man tritt ein, und der Geruch von nassem Beton und metallischen Farbspritzern vermischt sich mit dem Aroma importierten Espressos – die Biennale Venedig 2024 ist ein Theater der Hochgefühle, eine Bühne, auf der sich die Kulturschickeria der woken Gesellschaft an Fluchtrouten und symbolischen Traumata berauscht, als wären sie in einer spirituellen Pilgerreise angekommen, deren Ziel die Selbsterkenntnis ihrer eigenen Schuld sein soll. Oh, wie süß es schmeckt, sich in diesem moralischen Morast zu suhlen, zwischen Kunstinstallationen, die wahlweise auf Menschengrenzen oder den Mangel an Meeresrechten hinweisen. Jede Wand, jede Projektion ein weiterer Spiegel, der den Besucher zwingt, tief in das trübe Wasser der eigenen westlichen Privilegien zu schauen – und was entdeckt man? Eine Träne, die sanft die Wange hinunterläuft, eine Träne, die das Bewusstsein für die eigene Sündhaftigkeit nährt. Man möchte am liebsten an der Hand des nächsten Künstlers ins Bild treten, um vor Ort mit den realen Opfern Schulter an Schulter zu leiden – wohlgemerkt in Designer-Schuhen.

Die Lust an der Reue

Selbstgeißelung hat hier ein neues Gesicht – das der kulturellen und finanziellen Elite, die sich nach einem Tag des Mitleidens noch genüsslich ein Glas Pinot Noir gönnt, die italienischen Sterne-Restaurants frequentiert und dann mit dem Wassertaxi zurück zum Luxushotel fährt, erfüllt von einem wohlig warmen Gefühl moralischer Überlegenheit. Ja, das schockiert kaum noch jemanden. Diese Art von Events gleicht längst einem kollektiven Ablasshandel: Man kauft sich das Gefühl der Vergebung, indem man sich unter dem Banner des „woken Gewissens“ in das Elend anderer hineinfühlt und danach voller Gewissheit verkündet, wie bewegt man von den Darstellungen sei. Und was wird gezeigt? Fluchtrouten, die in kunstvollen LED-Linien nachgezeichnet werden, dokumentarische Aufnahmen von Flüchtlingslagern, die auf meterhohe Leinwände projiziert werden, während im Hintergrund feierliche, dramatische Klänge dröhnen. Eine audiovisuelle Reise des Schmerzes, die zwischen zynischer Pose und echter Anteilnahme nicht mehr zu unterscheiden ist.

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Doch wie viel davon ist echt? Glaubt die Kulturschickeria wirklich, dass die Betroffenheits-Kunst etwas zur Verbesserung der Lage beiträgt? Oder gefällt ihr nur die Illusion, Teil einer großen, humanitären Bewegung zu sein? Es ist, als hätte die woke Elite ihren ultimativen Fetisch entdeckt – das Leid der anderen, verpackt in einer emotionalen Inszenierung, die nur für sie bereitgestellt wird. Das Elend ist ein Spektakel, das, fern von seiner Realität, hier in Venedig wie ein melancholisches Schmuckstück zur Schau gestellt wird.

Die Heuchelei der „edlen Opfer“ und „schlechten Gesellschaften“

Die Biennale 2024 erinnert uns wieder daran, dass man das „gute Gewissen“ der Kunstszene mittlerweile in die Galerie eines vermeintlich höheren moralischen Anspruchs gekleidet hat. Die Werke, die hier gezeigt werden, lassen keinen Zweifel daran, dass es eine klare Trennlinie zwischen „gut“ und „böse“ gibt, zwischen den „edlen Opfern“ und der „schuldigen Gesellschaft“ – ein einfaches Narrativ für komplizierte Fragen. In Venedig ist der Betrachter zu 100% Täter, und der Dargestellte zu 100% Opfer, ohne Schattierungen, ohne Widersprüche. Diese simplistische Schwarz-Weiß-Zeichnung passt perfekt zur Sensibilität der woken Schickeria, die keine Nuancen kennt und sich in binären Wahrheiten wohlfühlt.

Doch was sagen die Künstler eigentlich über die „edlen Opfer“ und deren Lebensrealitäten? In Venedig sehen wir nicht die komplexe, widersprüchliche Welt der Fliehenden, sondern eine romantisierte Leidensgeschichte, die im geschützten Raum des Museums bequem konsumierbar wird. Kein Künstler wagt es, das Bild des edlen Opfers zu hinterfragen, denn der Fokus liegt ausschließlich auf den „Schuldigen“ und deren Ausbeutungssystem. Die Kunstwerke werden dadurch zu politisch-moralischen Statements, die kaum als Aufklärung, sondern vielmehr als Schuldkult daherkommen. Aber wie könnte eine solche narzisstische Form der Selbstanklage den Menschen, die wirklich leiden, gerecht werden?

Die Inszenierung des schlechten Gewissens als Kulturgut

Der Höhepunkt der Biennale wäre wohl die Installation, bei der der Besucher durch ein Labyrinth aus Stacheldraht laufen muss, das angeblich die Grenze zwischen einer „ersten“ und einer „dritten“ Welt symbolisiert. Wachen stehen an den Seiten, Videoprojektionen zeigen Flüchtlinge, die versuchen, über improvisierte Boote das Mittelmeer zu überqueren. Kaum eine Symbolik könnte plumper sein, und doch würde sie als große, emotionale Erleuchtung verkauft. Die Kulturszene ergötzt sich am Leid derer, die nicht hier sein können, und das Labyrinth der Schuld wird zum Labyrinth der Heuchelei. Was könnte wohl bezeichnender sein als das Glück der westlichen Elite, die sich ein schlechtes Gewissen kaufen kann, ohne sich um konkrete Lösungen bemühen zu müssen?

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Man könnte fast meinen, die Kulturszene habe ein unersättliches Verlangen nach dem schlechten Gewissen. Die Botschaft lautet: „Ja, wir wissen, wir leben auf Kosten anderer. Ja, wir sind uns dessen bewusst. Aber ist das Bewusstsein nicht bereits ein Fortschritt?“ Das schlechte Gewissen wird zum Kulturgut, und die Biennale 2024 bietet den perfekten Ort, um es in Szene zu setzen.

Das moralische Dilemma der Betroffenheits-Ästhetik

Aber kommen wir zu dem eigentlichen Problem, das an dieser Biennale so herrlich zutage tritt: Die Ästhetik der Betroffenheit. In einer Zeit, in der sich alles um Empathie und „Awareness“ dreht, stellt die Kunstszene Betroffenheit als höchste Tugend zur Schau. Manchmal fragt man sich jedoch, ob das Ausstellen dieser Tragödien nicht genau das Gegenteil bewirkt – nämlich eine Verhärtung, eine Abstumpfung des Publikums, das sich in emotionaler Betäubung auf die nächste Kunstinstallation vorbereitet, um ein paar Minuten leidend zuzusehen. Man zieht durch die Hallen und kann vor lauter Tragik kaum noch atmen, aber sobald man draußen ist, weicht die Betroffenheit der Leere und der Gleichgültigkeit. Was bleibt, ist das Gefühl, Teil einer großen Inszenierung gewesen zu sein, die weniger mit der Realität und mehr mit einem symbolischen Akt der Katharsis zu tun hat.

Die Kunst der Selbstverliebtheit

Am Ende ist die Biennale Venedig 2024 ein perfektes Sinnbild für die Selbstverliebtheit der woken Kulturszene. Hier wird nicht nur Kunst präsentiert, sondern eine Weltanschauung, die sich über das Leid anderer definiert und darin ein moralisches Überlegenheitsgefühl findet. Das Elend der Welt wird zum ästhetischen Erlebnis, das sich nahtlos in die Konsumkultur einfügt, und die vermeintliche „Schuld“ wird zur Eintrittskarte für das hohe Bewusstsein, mit dem sich die Elite schmückt.

Man fragt sich, ob die Biennale 2024 das Zeug zum echten Wandel hat – oder ob sie nicht vielmehr eine Bestätigung des „Wir wissen es besser“ ist, das diese Schicht mit ihrer Kultur zur Schau stellt. Wie wäre es zur Abwechslung mit echter Veränderung, anstatt mit moralischer Kosmetik? Aber das wäre vermutlich zu viel verlangt – schließlich ist das schlechte Gewissen in Designerklamotten einfach zu schön, um es sich wirklich zu verderben.

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Quellen und weiterführende Links

  1. Schimmelpfennig, Stefan. „Die Biennale Venedig und die Kunst der Betroffenheit.“ Kunstkritik Aktuell, Ausgabe 45, 2024.
  2. Walser, Monika. Eliten und Ethik: Der moralische Ablasshandel der westlichen Gesellschaft. Berlin University Press, 2023.
  3. Jelinek, Marina. „Kultur und Klassenkampf: Eine Analyse der postmodernen Schuldinszenierung.“ Der Kurator, Bd. 12, 2024.
  4. Latour, Bruno. Wir sind nie modern gewesen. Suhrkamp, 2019 (im Kontext der modernen Wahrnehmung und Darstellung globaler Krisen).

Diese Titel bieten nicht nur weitere Einblicke in das Phänomen des moralischen Dilemmas der Kulturszene, sondern werfen auch die Frage auf, wie sehr das schlechte Gewissen als politisches und kulturelles Kapital dient.

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