
Gottes Krieger: Die Kreuzzüge in neuem Licht
„Die Kreuzzüge waren Notwehr!“ Ja, das hat man schon oft gehört, und wer könnte es nicht nachvollziehen? Die „guten“ Christen, tapfer und mutig, schnappten sich ihre Schwerter und zogen los, um das heilige Land zu befreien – oder war es das heilige Land, das sie befreiten? Es ist fast so, als würde man sagen, dass die Kreuzritter in den Fernen Osten reisten, um den dortigen Bewohnern die Vorzüge des Abendlandes näherzubringen. Im Angesicht der eindrucksvollen Thesen von Rodney Stark in seinem Buch Gottes Krieger: Die Kreuzzüge in neuem Licht muss man sich fragen, ob wir hier nicht einer der größten Missverständnisse der Geschichte gegenüberstehen.
Stark zieht das Bild des brutalen, fanatischen Kreuzritters in Zweifel und öffnet die Tür zu einer neuen Sichtweise auf diese militärischen Expeditionen, die so oft als barbarisch abgetan wurden. Aber wer kann schon das Gefühl loswerden, dass in diesen „Notwehr“-Kriegsexpeditionen mehr steckte, als nur die Wiedereroberung eines „heiligen“ Landes? Wer weiß, vielleicht handelte es sich bei den Kreuzfahrern nicht um gesichtslosen Wüstenkrieger, sondern um die Vorläufer moderner Europäer, die – getreu dem Motto „Ich schlage zurück!“ – entschlossen für ihre Werte und das, was sie für gerecht hielten, in die Schlacht zogen.
Eine Notwendigkeit zur Verteidigung
Die Thesen von Stark nehmen ihren Anfang in der Geschichte der islamischen Expansion nach dem Tod des Propheten Mohammed. Ein rasantes Tempo, das von den Eroberungen durch die arabischen Armeen in den Jahren 632 bis 711 geprägt war, kann nur als eine Art Überfall auf die damals bestehende christliche Welt interpretiert werden. Die Ost-Römer, auch bekannt als Byzantiner, und das neupersische Sassanidenreich standen vor einer großen Herausforderung. So gesehen: Wer könnte es den Europäern verdenken, dass sie irgendwann einmal dachten, sie müssten den blutigen Vorstößen Einhalt gebieten?
Das Bild der Kreuzritter als kriegerische Notwehr ist also durchaus nachvollziehbar. Hier wird das Konzept der Notwehr in einer Weise interpretiert, die selbst die größte geistige Gymnastik in den Schatten stellt. Denn ja, wenn man den eigenen Hinterhof in Flammen sieht, mag man schon eher geneigt sein, sich zu wehren, als in der warmen Stube zu bleiben und den Nachbarn beim Brennen zuzusehen. Wer möchte nicht den sprichwörtlichen „Kreuzritter“ für die Verteidigung seiner eigenen Territorien, seiner eigenen Kultur und seiner eigenen Religion gewinnen?
Auf zur Eroberung
Es ist beeindruckend, wie Stark die Kreuzzüge im Kontext der europäischen Geschichte betrachtet. Die Kreuzfahrer, die sich aufmachten, um die „heilige“ Stadt Jerusalem zu befreien, taten dies nicht nur im Namen Gottes, sondern auch im Namen ihrer eigenen kulturellen Werte und Überzeugungen. War das nicht eine noble Sache? Schließlich könnte man sagen, dass die Christen in einem Zeitalter lebten, das von dunklen Zeiten geprägt war. Doch die Kreuzzüge waren mehr als nur Kriege um Land oder Macht. Sie waren das Resultat eines kulturellen Aufbruchs, ein Bekenntnis zu den christlichen Werten und eine Art von Selbstbehauptung gegen die aggressiven Strömungen des Islams.
Die Idee, dass die Kreuzfahrer aufbrachen, um das Heilige Land zu „retten“, gibt den Eroberungen eine gewisse glorreiche Note, die man nicht unterschätzen sollte. Man kann es fast so sehen, als wären sie die ersten Globetrottel gewesen, die auf einen neuen Kontinent zogen, um den Einheimischen „die Zivilisation“ näherzubringen – und das alles mit einem Kreuz auf der Brust und einem Schwert in der Hand. Was könnte heroischer sein? Wer braucht schon Friedensverhandlungen, wenn man auch mit dem Schwert seine Vorstellungen durchsetzen kann? Und das in einem Jahrzehnt, in dem man sich mit dem feinen Gewand des Glaubens kleidet.
Schicksal oder Vorwand
Die Kreuzzüge waren zweifellos ein Produkt der Religiosität, aber sie waren nicht die einzige Triebfeder für diese Kriege. Stark macht deutlich, dass die Kreuzzüge ebenso von wirtschaftlichen Interessen, Machtspielen und dem Streben nach Einfluss geprägt waren. Wer kann das schon so klar voneinander trennen? Vielleicht sind die Kreuzzüge mehr als nur ein Krieg um das Heilige Land – sie sind auch ein Beispiel für das, was passiert, wenn Glauben auf persönliche Ambitionen trifft. Man könnte fast behaupten, dass sie die ersten Globalisierungsbestrebungen darstellten, die darauf abzielten, ein bisschen „christliche Kultur“ in die Welt zu tragen, ohne dass man sich um kulturelle Empfindlichkeiten scherte.
Betrachtet man die Kreuzzüge unter diesem Aspekt, wird es fast lustig. Wer erinnert sich nicht an die Christen, die durch die Straßen von Jerusalem zogen und den Einheimischen mit einem Lächeln auf den Lippen die Vorzüge der abendländischen Zivilisation erklärten? „Hier, nimm diese Bibel, sie ist ganz frisch gedruckt. Und wenn das nicht reicht, haben wir auch ein paar Lanzen und Schwerter dabei.“ Wenn man die Kluft zwischen den Idealvorstellungen und der brutalen Realität bedenkt, könnte man tatsächlich lachen – oder weinen.
Ein zweischneidiges Schwert
Trotz der ergreifenden Thesen von Stark muss man sich auch die Widersprüche und moralischen Fragestellungen der Kreuzzüge vor Augen führen. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Heldenmut der Kreuzritter und der brutalen Realität des Krieges. Die in den Kreuzzügen gefallenen Helden sind gleichzeitig auch die Protagonisten von Grausamkeiten, die nicht nur im Namen Gottes begangen wurden, sondern auch im Namen des persönlichen Ruhms und des materiellen Gewinns.
Man könnte fast annehmen, dass das „Heilige“ an den Kreuzzügen mehr eine Frage der Perspektive ist. Für die einen waren die Kreuzfahrer unerschütterliche Kämpfer für den Glauben, für die anderen brutale Eroberer. Was also ist die Wahrheit? Vielleicht liegt sie irgendwo dazwischen. Während Stark das Bild der Kreuzfahrer als Helden neu zeichnet, können wir uns nicht von der Vorstellung befreien, dass die Grausamkeit, die sie verbreiteten, auch in die Geschichtsbücher eingeht. Der Widerspruch zwischen heiligem Auftrag und blutigem Übergriff bleibt.
Von Kreuzzügen und kulturellen Konflikten
Wenn wir heute über die Kreuzzüge sprechen, können wir uns kaum des Gefühls erwehren, dass sich die Welt nicht allzu sehr verändert hat. Es gibt immer noch Kriege im Namen des Glaubens, kulturelle Missverständnisse und einen anhaltenden Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam. Der Kreuzzug im 21. Jahrhundert ist vielleicht weniger blutig, aber nicht minder ideologisch. Man könnte annehmen, dass die Lehren aus den Kreuzzügen nach wie vor aktuell sind – und dass die kulturellen Spannungen, die sie hervorgebracht haben, nicht verschwunden sind.
So wird das Bild, das Stark von den Kreuzzügen zeichnet, auf einen modernen Kontext übertragen. In einer Zeit, in der man das Gefühl hat, dass die Welt wieder in alte Konflikte zurückfällt, wird die Geschichte der Kreuzzüge zu einem Spiegelbild unserer eigenen Unsicherheiten. Ist es nicht faszinierend, dass wir uns über 900 Jahre nach den ersten Kreuzzügen immer noch mit denselben Fragen und Herausforderungen auseinandersetzen müssen? Könnte man Stark nicht als einen modernen Propheten der Kreuzzüge bezeichnen, dessen Ideen auch heute noch Bedeutung haben?
Eine Hommage an die Helden des Mittelalters
In Anbetracht all dieser Überlegungen bleibt zu sagen, dass Rodney Stark mit Gottes Krieger: Die Kreuzzüge in neuem Licht eine erfrischende Perspektive auf eine oft verzerrte Geschichte bietet. Auch wenn man über die Kreuzzüge lachen und weinen könnte, darf man nicht vergessen, dass sie für viele als heroische Taten im Kampf gegen eine wahrgenommene Bedrohung standen. Das Buch ist eine Einladung, die komplexe Realität der Kreuzzüge neu zu bewerten und die Motive der Akteure hinter diesen gewaltigen militärischen Expeditionen zu hinterfragen.
Letztendlich könnte man sagen, dass die Kreuzzüge mehr waren als nur Kämpfe um Land und Macht. Sie waren ein Ausdruck von Glauben, Ambition und der ständigen Suche nach dem eigenen Platz in einer sich verändernden Welt. In der Betrachtung der Kreuzzüge als „Notwehr“ können wir vielleicht etwas über unsere eigene Zeit lernen und darüber, wie leicht es ist, in die Falle der eigenen Ideale zu tappen. Wer weiß, vielleicht können wir eines Tages aus der Geschichte lernen und die Kreuzzüge einfach nur als das betrachten, was sie sind: ein faszinierendes Kapitel der Menschheitsgeschichte, das uns nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken anregt.
Quellen und weiterführende Links
- Stark, Rodney. Gottes Krieger: Die Kreuzzüge in neuem Licht. Stuttgart: C.H. Beck, 2009.
- Asbridge, Thomas. The Crusades: The Authoritative History of the War for the Holy Land. New York: HarperCollins, 2010.
- Tyerman, Christopher. God’s War: A New History of the Crusades. Cambridge: Belknap Press, 2006.
- Gillingham, John. The Crusades: A Short History. New York: Penguin Books, 1993.
- Holt, Peter M. The Age of the Crusades. London: Macmillan, 1986.