Dystopische Diätkultur

Willkommen in der schlanken Zukunft

Stellen Sie sich vor: Ein Land voller schlanker, fitter Bürger, die geschäftig die Straßen und Arbeitsplätze füllen, dank einer Regierung, die „anders denkt“. Wer dachte, dass Gesundheitsförderung eine Frage von Prävention und langfristiger Versorgung sei, wird hier eines Besseren belehrt. Wir befinden uns in Großbritannien im Jahr 2024, und die politische Elite– eine sozialdemokratische, wohlgemerkt – hat ein neues, wahrhaft revolutionäres Konzept entwickelt. Menschen, die bislang keine Beschäftigung fanden, sollen nicht durch Bildung, Unterstützung oder faire Arbeitsbedingungen zurück in den Jobmarkt gebracht werden, sondern durch eine Abnehmspritze. Jawohl, Sie haben richtig gehört. Die Zukunft des Arbeitsmarkts ist schlank und pharmakologisch optimiert.

Die absurden Details dieses Plans lesen sich wie eine groteske Dystopie. In den Medien erscheinen wieder die sogenannten „Headless Fatties“, dicke Menschen ohne Köpfe, auf Bildern, die sie als gesichtslose Masse darstellen, anonym, entmenschlicht. Es ist, als ob diese Menschen nur Körper wären – Körper, die leider zu viel wiegen und deshalb nicht arbeiten können. Solche Bilder sind keineswegs zufällig gewählt. Sie sind Statements, die sagen: „Diese Körper, diese Köpfe, diese Menschen passen nicht in unsere Vorstellung einer produktiven Gesellschaft.“ Ein schelmischer Zyniker könnte sich fragen, ob das Ziel dieser Kampagne darin besteht, die Dicke in unserer Vorstellung als bloße Kostenstelle zu verankern, die man nur noch pharmazeutisch entlasten kann.

Die Rhetorik des Klassismus

„Druck aus dem System nehmen“, sagt der SoziChef Sir Keir Starmer. „Eine erhebliche Belastung für das Gesundheitswesen“, sagt sein Gesundheitsminister Wes Streeting. Wenn wir an die „erheblichen Belastungen“ des Gesundheitswesens denken, schießen uns vielleicht Bilder von überarbeiteten Pflegekräften, unterfinanzierten Krankenhäusern oder chronischem Ärztemangel in den Kopf. Aber falsch gedacht. Die wahre Belastung sind die dicken Menschen, die nicht arbeiten. Ausgeblendet bleibt, dass das britische Gesundheitssystem seit Jahren vom Spardruck gequält wird, von politischer Fahrlässigkeit und dem anhaltenden Mantra der Privatisierung gegeißelt.

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Und dann die Lösung: Statt die NHS-Mitarbeiter besser zu entlohnen oder die Zustände in Pflegeberufen zu verbessern, setzt man auf „Abnehmspritzen“ – geliefert vom amerikanischen Pharmariesen Eli Lilly. Man kann sich die erlauchten Herren und Damen der oberen Etagen dieser Unternehmen bildlich vorstellen: leise klingelnde Gläser Champagner, ein zufriedenes Lächeln bei den Worten „elf Milliarden Pfund Gesundheitskosten sparen“. Mit einer einzigen Nadel sollen nun Dicke geimpft und die Britische Wirtschaft gleich mit beflügelt werden. Was für eine logische Brillanz, könnte man denken – wenn man jegliche Empathie ausgeschaltet hat.

Die Stigmatisierung

Dieser Plan zeigt einen zutiefst abwertenden Blick auf mehrgewichtige Menschen. Dicke Arbeitslose werden hier nicht nur als Problem der Ökonomie beschrieben, sondern gleich als moralisches Versagen entlarvt: Der Gedanke dahinter lautet, dass diese Menschen ihre Situation durch „schlechte Lebensentscheidungen“ selbst herbeigeführt haben. Die Abnehmspritze ist dabei keine Gesundheitsmaßnahme, sondern ein Versuch, diese angeblich verantwortungslosen Menschen zur Räson zu bringen. Hier wird Gesundheitsförderung nicht als Dienst am Menschen gesehen, sondern als strenge Erziehungsmaßnahme – der Mensch wird auf seine ökonomische Verwertbarkeit reduziert.

Das Bild, das hier gezeichnet wird, ist zutiefst klassistisch und dickensianisch: Menschen, die nicht der Norm entsprechen, werden als Belastung dargestellt, nicht als Bürger mit Rechten und Bedürfnissen. Sie werden als unfähig abgestempelt, selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Die Abnehmspritze symbolisiert die Hoffnung, diese Menschen wieder in den Dienst der Wirtschaft zurückzuführen. Diese Logik folgt einer perfiden Perversion des Wohlfahrtsstaates, der einst geschaffen wurde, um Menschen in Not zu helfen. Hier wird Not nur noch als ökonomische Belastung definiert, die es zu minimieren gilt.

Die Verwertbarkeit als oberstes Prinzip

Man könnte fast lachen, wenn es nicht so tragisch wäre: Der gleiche Politiker, der stolz erklärt, dass der NHS nicht ewig die Rechnung für „ungesunde Lebensweisen“ übernehmen könne, investiert fröhlich in Medikamente, die genau diese „ungesunde Lebensweise“ dauerhaft verändern sollen – natürlich ohne den „Lebensstil“ wirklich zu hinterfragen. Denn das Grundproblem wird ignoriert: Armut, soziale Isolation, fehlende Zugänge zu Bildung und gesunder Ernährung. Eine echte Gesundheitsförderung müsste doch weit über die Form der Figur hinausgehen und sich auf die strukturellen Ursachen konzentrieren, die überhaupt zu den gesundheitlichen Problemen führen. Doch warum sich mit so komplexen, unappetitlichen Themen befassen, wenn man mit ein paar Spritzen den gewünschten Effekt schneller und profitabler erzielen kann?

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Profitgier und Pharmainteressen

Dass Eli Lilly und andere Pharmariesen ihre Beteiligung an solchen Projekten nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit einbringen, dürfte klar sein. Mit Millionen von Pfund wird hier nicht die britische Bevölkerung gesünder gemacht, sondern ein lukrativer Markt für Medikamente geschaffen, die langfristig Abhängigkeit erzeugen können. Man spart an struktureller Gesundheitsförderung und investiert lieber in das kurzfristige Spektakel. Die langfristigen Folgen der Medikamenteneinnahme? Wen interessieren die schon, wenn der Börsenkurs stimmt. Dicke Arbeitslose als bloßes wirtschaftliches Instrument, eine Zielgruppe mit festem ROI und einem pharmazeutischen Zukunftsmarkt, der bis in alle Ewigkeit sprießen kann.

Wo Dickenfeindlichkeit Staatsräson wird

Hier entfaltet sich eine groteske Dystopie, in der Dickenfeindlichkeit politisch institutionell gefördert wird. „Anders denken“ bedeutet hier: andere als Kostenstelle zu behandeln, nicht als Menschen. Die Körperideale der Medien und die Profitziele der Pharmaindustrie gehen Hand in Hand mit einem verheerenden Menschenbild, das jeden, der von der Norm abweicht, zum Problem erklärt. Die „Headless Fatties“ – dicke Menschen, die medial ohne Gesicht abgebildet werden, als anonyme Masse, die nur die Gesellschaft belastet – sind das perfekte Symbol dieser Ideologie. Sie sind nur Körper, schwer, belastend und überflüssig. Wer sie zur Arbeit bringen will, tut es nicht, um sie als Menschen zu fördern, sondern um die Wirtschaft zu entlasten.

Wer trägt die wahre Last?

Am Ende dieses erschütternden Schauspiels bleibt eine entscheidende Frage: Wer trägt die wahre Last? Ist es der NHS, der an übergewichtigen Arbeitslosen zugrunde gehen soll, oder ist es nicht doch die mehrgewichtige, wirtschaftlich benachteiligte Bevölkerung, die auf den Altar neoliberaler Reformideen gelegt wird? Statt sozialer Verantwortung und echter Gesundheitsförderung steht hier ein Zynismus im Mittelpunkt, der dicke Menschen als Problem markiert und ihre Existenz auf ihre Arbeitskraft reduziert. Der „Druck“ im System bleibt bestehen – denn dieser Druck entspringt nicht aus der Existenz dicker Menschen, sondern aus einer Politik, die sich nur um Profit und nicht um Menschen dreht.

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Quellen und weiterführende Links

  1. Puhl, R., & Brownell, K. D. (2001). Bias, discrimination, and obesity. Obesity Research, 9(12), 788–805.
  2. Oliver, J. E. (2006). Fat Politics: The Real Story Behind America’s Obesity Epidemic. Oxford University Press.
  3. Saguy, A. C. (2013). What’s Wrong with Fat? Oxford University Press.
  4. The Guardian: Labour plans to offer weight-loss injections to unemployed to get them back to work (2023).
  5. NHS England. (2022). NHS National Obesity Strategy.
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