Die Zitierkunst als moralische Kurzstrecke

Es beginnt, wie so viele Debatten des digitalen Zeitalters beginnen: mit einem Satz, der glänzt wie eine frisch polierte Münze, handlich, wohlklingend, scheinbar eindeutig. „Wenn jemand eine Person tötet, ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet.“ Ein Satz, der sich hervorragend für Profilbilder eignet, für Tweets, für den schnellen moralischen Triumph im Kommentarbereich. Der Satz ist kurz genug, um nicht nach Kontext zu riechen, und er ist pathetisch genug, um Widerspruch schon im Ansatz zu ersticken. Wer möchte schon gegen die Rettung der ganzen Menschheit argumentieren? Und doch liegt genau hier der Reiz dieser Zitierkunst: Sie lebt von der Verkürzung, vom absichtsvollen Weglassen, vom eleganten Übergehen all jener Fußnoten, die das schöne Plakat in ein kompliziertes Gemälde verwandeln würden. Ich saß also in dieser Online-Debatte, in der mir Vers 5:32 als endgültiger Beweis für den Frieden des Islam präsentiert wurde, versehen mit der großzügigen Zusicherung, man werde die Religion verlassen, sollte das Gegenteil bewiesen werden. Ein religiöses „Money-back-Garantie“-Angebot, das allein schon literarisch verdächtig klang.

Der Kontext als ungebetener Gast

Denn der Kontext ist der Partycrasher jeder frommen Wohlfühllektüre. Er kommt unangekündigt, stellt unbequeme Fragen und öffnet Türen, hinter denen Dinge liegen, die man lieber nicht sehen möchte. Der vollständige Vers 5:32 beginnt nicht mit einer universellen Liebeserklärung an die Menschheit, sondern mit einer juristischen Verordnung „für die Kinder Israels“. Schon dieser Einstieg macht aus der vermeintlichen Menschheitsmaxime eine historisch und theologisch verortete Anweisung. Und dann folgt die berühmte Einschränkung, dieses kleine „außer“, das in der religiösen Exegese ungefähr die Sprengkraft eines ganzen Arsenals besitzt: außer wegen Mordes oder wegen „Unheil im Land“. Ein Satzteil, so unscheinbar wie ein Nebensatz, aber so folgenreich wie ein Urteilsspruch. Der Vers endet zudem mit der nüchternen Feststellung, dass viele trotzdem weiter Exzesse begehen. Kein hymnischer Friedensgesang also, sondern eher ein resignierter Blick auf die Unbelehrbarkeit der Menschen. Der schöne Satz verliert plötzlich seine Unschuld und wirkt eher wie ein Paragraph mit Strafklausel.

TIP:  Am Ende wird dann bei der Prüfung getanzt.

Wenn Ausleger sprechen, schweigt der Universalismus

An dieser Stelle betreten die klassischen Ausleger die Bühne, jene Instanzen, die im innerislamischen Diskurs nicht als optionale Kommentatoren gelten, sondern als autoritative Stimmen. Ibn Kathir etwa zitiert Saʿid ibn Jubayr mit der bemerkenswerten Präzisierung, dass es hier um das Blut eines Muslims geht. Nicht abstrakt „der Mensch“, sondern konkret „der Muslim“. Tötest du ihn, tötest du sinnbildlich alle; schützt du ihn, schützt du alle. Mujahid ibn Jabr verschärft diese Lesart noch, indem er die Strafe für den absichtlichen Mord an einer gläubigen Seele mit derjenigen gleichsetzt, die fällig wäre, hätte man die gesamte Menschheit getötet. Der Universalismus schrumpft hier auf die Größe der Gemeinschaft zusammen, die als gläubig definiert ist. Der Rest der Menschheit wird nicht ausdrücklich verdammt, aber er verschwindet aus dem moralischen Fokus wie Statisten aus einem schlecht beleuchteten Bühnenbild.

Das dehnbare Wort Unheil

Besonders elastisch wird die Argumentation beim Wort „fasād“, jenem „Unheil“, das als legitimer Grund für das Töten genannt wird. Ibn Kathir erklärt dieses Unheil in anderen Versen als Unglauben und Ungehorsam gegenüber Allah. Unheil ist demnach nicht nur das klassische Verbrechen, sondern auch die falsche Überzeugung. Wer nicht gehorcht, stört die kosmische Ordnung. Frieden entsteht nicht durch Koexistenz unterschiedlicher Weltanschauungen, sondern durch Gehorsam. Diese Definition ist von einer beunruhigenden Logik: Sie verwandelt den inneren Zustand des Glaubens in eine äußere Bedrohung. Der Andersdenkende wird nicht deshalb problematisch, weil er etwas tut, sondern weil er etwas ist. Der Schritt von der Metaphysik zur Strafjustiz ist hier erstaunlich kurz.

Al-Jalalayn und die Klarheit der Grausamkeit

Der Tafsir al-Jalalayn, bekannt für seine prägnante Nüchternheit, bringt diese Logik mit fast brutaler Klarheit auf den Punkt. „Verderbnis im Land“ umfasst dort Unglauben, Unzucht, Überfall und dergleichen. Die Aufzählung ist bezeichnend, weil sie moralische, soziale und theologische Kategorien vermischt, als seien sie gleichartige Verbrechen. Die Rettung eines Lebens wird zwar erwähnt, doch auch hier bleibt der Fokus auf der Heiligkeit der eigenen Gemeinschaft. Was als Schutz der Menschheit verkauft wird, erweist sich als Schutz der Norm. Die vielzitierte Humanität des Verses ist nicht falsch, aber sie ist selektiv. Sie gilt innerhalb eines Rahmens, der bereits entschieden hat, wer vollwertiger Träger dieser Humanität ist.

TIP:  Österreich im freien Fall

Die Nachbarverse als Nachruf auf die Sanftmut

Wer nun immer noch hofft, Vers 5:32 sei ein Ausrutscher im ansonsten friedlichen Duktus, sollte einen Blick auf die unmittelbar folgenden Verse werfen. 5:33 und 5:34 lesen sich wie ein mittelalterlicher Strafenkatalog, der keinen Zweifel daran lässt, wie ernst „Krieg gegen Allah und seinen Gesandten“ genommen wird. Hinrichtung, Kreuzigung, das Abschneiden von Händen und Füßen – die Sprache ist drastisch, die Bilder sind nichts für empfindsame Gemüter. Ein Hadith bei Abu Dawud macht die Sache nicht milder, sondern präziser: Diese Strafen beziehen sich auf Polytheisten, und Reue vor der Festnahme hebt die Strafe nicht auf. Reue ist hier kein humanistisches Rettungsboot, sondern bestenfalls eine metaphysische Beruhigung vor der Vollstreckung.

Der Frieden als rhetorische Kulisse

An diesem Punkt wird die ironische Spannung unerträglich: Ausgerechnet dieser Vers 5:32, eingebettet in einen Kontext harter Sanktionen und exklusiver Moral, wird als Kronzeuge für die Friedfertigkeit des Islam herangezogen. Es ist, als würde man ein einzelnes freundliches Wort aus einem Drohbrief zitieren und es zur Charakterstudie des Absenders erklären. Der Frieden fungiert hier als rhetorische Kulisse, hinter der sich ein normatives System verbirgt, das Gewalt nicht nur kennt, sondern unter bestimmten Voraussetzungen heiligt. Das macht den Islam nicht einzigartig unter den Religionen, aber es entlarvt die intellektuelle Unredlichkeit jener, die mit einem halben Vers eine ganze Theologie verteidigen wollen.

Das augenzwinkernde Fazit einer ernsten Lektüre

Am Ende dieser Debatte blieb mein Gegenüber übrigens still. Nicht konvertiert, nicht ausgetreten, einfach offline. Vielleicht war das die friedlichste Lösung von allen. Der Vers 5:32 ist kein Beweis für eine per se friedliche Religion, sondern ein Beispiel dafür, wie komplex, widersprüchlich und gefährlich vereinfachbar heilige Texte sind. Wer ihn ohne Kontext zitiert, betreibt keine Theologie, sondern Marketing. Und Marketing, das wissen wir, lebt von schönen Versprechen und kleinen Buchstaben. Die kleinen Buchstaben stehen hier in den Tafsiren, in den Einschränkungen, in den Nachbarversen. Sie zu lesen, ist weniger bequem, aber ehrlicher. Und vielleicht ist genau diese Ehrlichkeit der einzige Frieden, den man aus solchen Texten wirklich gewinnen kann.

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