Die wundersame Wandlung der Menschenliebe

2020: „Wir müssen die Vulnerablen schützen“
2025: „Scheiß auf die Vulnerablen“

Erstaunlich, wie schnell sich ein gesellschaftliches Mantra verflüchtigen kann. Noch 2020 wurde die „Vulnerabilität“ älterer Menschen von Politik, Medien und moralisch erleuchteten Influencern wie eine kostbare Reliquie verehrt. Die Alten waren plötzlich das heilige Zentrum einer Republik, die jahrzehntelang vorgeschützt hatte, dass Pflegekräfte auch nur annähernd ausreichend wären. „Wir müssen die Vulnerablen schützen“, hieß es – und alle nickten so betroffen, dass man schon Sorge haben musste, sie würden sich das Genick verkanten.

Fünf Jahre später dann die Wendung: keine tränenrührige Pietät mehr, kein sakrales Schutzbedürfnis, kein moralisch erhobener Zeigefinger – sondern eher ein gelangweiltes Schulterzucken. Im Jahr 2025 heißt es plötzlich: „Scheiß auf die Vulnerablen“. Und das ganz ohne Außenwirkung von Pandemie, dafür aber mit innenpolitischem Drang zur Effizienz: Alte Menschen kosten Geld. Medikamente kosten Geld. Gesundheit kostet Geld. Und Geld – das ist bekannt – besitzt nun einmal einen höheren moralischen Rang als jede Würde, die man mit 85 plus X noch in den Knochen trägt.

Als Vulnerabilität noch sexy war

2020: Die Alten waren Staatsheiligtum. Man durfte sie nicht besuchen, aber man musste für sie klatschen. Man durfte ihnen nicht zu nahe kommen, aber man musste in Interviews immer wieder tief betroffen beteuern, wie sehr man sie doch schützen wolle. Die Politik nahm sie unter ihre rhetorischen Fittiche, so liebevoll wie ein Habicht seine Beute.

Damals galt: Ein Leben ist unbezahlbar. Heute gilt: Nun ja … jedes Leben hat zumindest eine Preisspanne.

2025: Die neue Sachlichkeit – oder: Wir rechnen uns frei

Und dann trat ein bekanntes Gesicht vor die Kameras und stellte die Frage aller Fragen: Lohnt es sich denn überhaupt noch, einer Hundertjährigen teure Medikamente zu geben?

Zyniker würden sagen: Diese Frage ist nicht neu. Neu ist nur, dass sie jetzt nicht mehr heimlich hinter verschlossenen Türen gestellt wird, sondern während einer Livesendung, während ein Moderator höflich nickt und so tut, als würde er darüber nachdenken. Neu ist, dass man sich nicht einmal mehr schämt, sie laut auszusprechen.

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Die Pointe: Es wird natürlich nicht um die Hundertjährige gehen. Es wird um all jene gehen, die gerade alt genug sind, um teuer zu sein, aber nicht prominent genug, um politisch noch als Menschen durchzugehen. Die Hundertjährige ist nur die rhetorische Königin: ein gut gewählter Bauernopfer-Avatar. Wer wird sich denn schon für eine Hundertjährige empören, die ohnehin „bald dran“ ist? Eben. So fängt man an.

Fürsorge oder Sparpolitik? Ein Scheingefecht

Offiziell heißt es: Man wolle Leitlinien schaffen. Leitlinien! Dieses wundervolle Wort, das so neutral klingt und doch der feine Stift ist, mit dem man Grenzen zieht. Leitlinien: dort, wo Ethik sich in Verwaltungsprosa verwandelt.

Man wolle, so heißt es, nur verhindern, dass Menschen „übertherapiert“ würden. Wie fürsorglich! Welch warmherzige Sprache für die Idee, dass man bestimmte Medikamente einfach nicht mehr herausgeben sollte, weil sie zu teuer sind für ein Leben, das statistisch schon halb im Jenseits steht.

Der Trick ist genial: Man erklärt den Verzicht zur Fürsorge. Man behauptet, das Nicht-Behandeln sei manchmal die menschlichere Behandlung. Zyniker könnten das für eine rhetorische Meisterleistung halten. Menschenfreunde würden es schlicht grausam nennen.

Die Entrüstung der Anderen – ein Pflichtprogramm

Natürlich gibt es Gegenstimmen. Es gibt sie immer. Politiker, die empört in Kameras sprechen, Ethiker, die sich an ihr Reißbrett klammern, Patientenvertreter, die Alarm schlagen. Alle sagen im Kern dasselbe: Das Leben ist unantastbar, es darf nicht nach Kosten bewertet werden, wir sind doch eine Zivilisation, verdammt!

Aber seien wir ehrlich: Entrüstung ist billig. Medikamente sind teuer.

Und während sich die Republik ereifert, schweigt die eigentliche Macht: die Kalkulation. Sie lächelt still im Hintergrund, denn sie weiß, dass jede öffentliche Erregung irgendwann abklingt, während ihr Zahlenwerk unerschütterlich bleibt. Empörung kostet nichts. Ein neues Krebsmedikament kostet mehrere Tausend Euro pro Monat. Man muss kein Zyniker sein, um zu ahnen, was sich durchsetzt.

Wer gut rechnet, lebt kürzer

Was sagt das über uns?
Dass wir eine Gesellschaft geworden sind, die das Alter zwar rhetorisch ehrt, aber praktisch entwertet. Dass wir die ökonomische Effizienz über das menschliche Erbe gestellt haben. Dass wir begonnen haben, das Lebensrecht in Monatsraten auszurechnen.

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Und dass wir, Hand aufs Herz, wahrscheinlich alle auf dieselbe Weise enden: alt, vulnerabel, teuer – und in den Augen zukünftiger Politiker genauso überflüssig wie jene, über die heute gesprochen wird.

Der bittere Witz dabei: Niemand, wirklich niemand, sieht sich selbst als „die Vulnerablen“. Bis es zu spät ist.

Schluss: Ein Augenzwinkern über dem Abgrund

Also, lohnt es sich für sehr alte Menschen noch, teure Medikamente zu bekommen?
Das ist die falsche Frage.

Die richtige lautet:
Wie viel Zynismus kann eine Gesellschaft ertragen, bevor sie ihn für Vernunft hält?

2020 war Mitgefühl Mode.
2025 trägt man Pragmatismus in Stahlgrau.

Und irgendwo dazwischen sitzen die Alten – dieselben Menschen, die man vor fünf Jahren noch gerettet hat – und hören nun, wie man im Fernsehen diskutiert, ob sich ihre Existenz noch rechnet.

Wenn das kein Fortschritt ist.

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