Die Würde des Menschen beginnt – irgendwann. Vielleicht. Später. Mal sehen.

Es war einmal – so beginnen Märchen, und vielleicht sollte man auch diesen Fall als solchen behandeln – ein Land, das stolz darauf war, die „unantastbare Menschenwürde“ in den ersten Satz seines Grundgesetzes geschrieben zu haben. Eine Art metaphysisches Versprechen, ein Fundament der Zivilisation, errichtet auf den Trümmern der Barbarei. Und siehe da: Jahrzehnte später steht dort, fast unbemerkt, eine Professorin der Rechte und spricht, mit der sanften Autorität juristischer Glätte, einen folgenreichen Satz: Die Menschenwürde beginne erst mit der Geburt. Nicht mit der Empfängnis, nicht mit der Nidation, nicht mit der Entwicklung eines Nervensystems oder dem ersten Herzschlag – nein, mit der Geburt, exakt in jenem Moment, wenn das Kind den Mutterleib verlässt, der erste Atemzug, ein bürokratisch fassbares Ereignis. Voilà: Der Mensch tritt ein in die Arena der Würdeträgerschaft. Davor? Nur Zellhaufen, biologische Warteschleifen, möglicherweise zukünftiges Leben, das derzeit jedoch noch keine Einladung zum Club der Menschen erhalten hat.

Wie praktisch. Wie elegant. Wie erschütternd.

Diese Position ist kein bloßer juristischer Taschenspielertrick. Sie ist der Versuch, eine Grenze zu ziehen, wo eigentlich das Unverfügbare wohnt. Und wie alle Grenzziehungen dieser Art ist sie willkürlich, gefährlich und ethisch fragwürdig. Denn wer dem ungeborenen Menschen die Würde abspricht, der öffnet Türen – nein, der sprengt sie mit juristischer Dynamitstange – hin zu einer Welt, in der Nützlichkeit, Sichtbarkeit, Verfügbarkeit darüber entscheiden, ob ein Leben zählt. Willkommen im Feuilleton der biopolitischen Rentabilitätslogik.

Von der Macht der Worte und der Ohnmacht der Ethik

Nun mag man einwenden: Das ist doch juristisch korrekt! Und ja – die rechtliche Konstruktion ist formvollendet, fast schon kunstvoll in ihrer Präzision. Doch gerade hier liegt der Skandal: Es ist eine Perfektion, die nichts mehr mit Wahrheit zu tun hat. Eine sterile, normierte Makellosigkeit, die aus der Feder einer Juristin stammt, deren Aufgabe es wäre, Recht nicht nur zu deuten, sondern auch im Lichte der Ethik zu verteidigen. Brosius-Gersdorf jedoch wählt die Flucht in die kalte Technik des Rechts. Ihr Satz ist das juristische Äquivalent eines sezierenden Skalpells: sauber, scharf, und ohne jedes moralische Zucken.

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Denn was bedeutet es, die Geburt zur Schwelle der Würde zu erklären? Es bedeutet, dass das ungeborene Kind bis zum letzten Moment verfügbar ist – ein Besitz, eine Option, ein „noch-nicht-Mensch“, der ohne Konsequenz geopfert, selektiert oder abgetrieben werden darf. In der Konsequenz heißt das: Der siebte, achte, gar neunte Monat? Solange der Geburtskanal nicht betreten wurde, bleibt das Leben eine juristische Grauzone, eine ethische Leerstelle.

Das ist keine Aufklärung. Das ist Regression – eine Rückkehr zu einem funktionalen Menschenbild, das an Nützlichkeit und Sichtbarkeit glaubt, nicht an Wesenhaftigkeit. Brosius-Gersdorfs Position ist kein Fortschritt. Sie ist das intellektuelle Kleid einer biopolitischen Ideologie, die vorgibt, modern zu sein, aber in Wahrheit der kalte Bruder des Utilitarismus ist. Mensch ist, wer funktioniert. Wer auf der Weltbühne erschienen ist. Wer Papiere hat. Und alle anderen? Noch nicht ganz da. Noch nicht ganz würdig. Vielleicht bald. Vielleicht nie.

Das Recht als Fata Morgana der Moral

Juristen – das muss man ihnen lassen – lieben die Konstruktion. Je abstrakter, desto besser. Die Menschenwürde, so sagen sie, ist „ein normativer Begriff“. Und normativ heißt: Man kann ihn definieren. Doch was passiert, wenn man beginnt, das Unverfügbare verfügbar zu machen? Wenn man das moralische Tabu des Lebensbeginns durch Definitionen ersetzt, die sich wunderbar in Kommentaren nachschlagen lassen, aber nichts mehr mit dem zu tun haben, was Menschen intuitiv als Leben erkennen?

Brosius-Gersdorf hat mit ihrem Satz nicht einfach eine Meinung geäußert. Sie hat einen Grundwert in Frage gestellt. Sie hat gesagt: Wir, die Juristen, entscheiden, wann Leben beginnt. Wann Würde zählt. Wann Menschsein beginnt. Und wir tun es auf Grundlage eines funktionalistischen Rationalismus, der sich selbst für objektiv hält – in Wahrheit aber tief ideologisch ist. Denn was ist ideologischer als die Behauptung, es gäbe eine Stunde Null der Menschenwürde, die exakt mit einem körperlichen Ereignis beginnt?

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Es ist der größte Etikettenschwindel des modernen Rechts: Man redet von Würde, meint aber Verfügbarkeit. Man redet von Selbstbestimmung, meint aber Nutzbarmachung. Und man redet von Freiheit, meint aber die Freiheit, das Schwächste preiszugeben. Kein Wunder, dass diese juristische Brillanz so gerne von Technokraten und Biopolitikern zitiert wird. Sie brauchen ihre moralische Tarnung. Brosius-Gersdorf liefert sie frei Haus.

Das Kind als Projektionsfläche postmoderner Beliebigkeit

Natürlich ist diese Haltung in den progressiven Kreisen beliebt. Sie passt zum Zeitgeist. Autonomie! Selbstbestimmung! Reproduktive Rechte! Alles wunderbar. Doch wer genau hinschaut, erkennt: Der Preis für diese Freiheit wird von denen bezahlt, die keine Stimme haben. Die nicht geboren sind. Die auf den guten Willen anderer hoffen müssen. Und deren Dasein zur Disposition steht, solange eine Richterin behauptet, sie hätten noch keine Würde. Denn erst wenn die Nabelschnur durchtrennt ist, beginnt das Fest der Menschenrechte.

Die Ironie ist kaum zu überbieten: Ausgerechnet jene, die sich als Verteidigerinnen des Lebensrechts der Frauen verstehen, sprechen einem anderen Leben dieses Recht vollständig ab. Und nennen das Fortschritt. Man könnte fast lachen, wenn es nicht so tragisch wäre.

Fazit: Tragbar? Juristisch vielleicht. Ethisch ein Desaster.

Ist Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin tragbar? Juristisch gesehen: zweifellos. Ihre Texte sind klar, ihre Argumentation ist kohärent, ihre Expertise unbestritten. Aber das allein darf nicht genügen. Denn Richter am Bundesverfassungsgericht tragen nicht nur schwarze Roben, sie tragen Verantwortung. Für Werte. Für Ethik. Für die Deutung dessen, was dieses Land im Innersten zusammenhält. Und wer den Begriff der Menschenwürde zu einem technischen Etikett macht, das man je nach Bedarf ankleben oder entfernen kann, disqualifiziert sich moralisch.

Man kann Brosius-Gersdorfs Haltung nur als das bezeichnen, was sie ist: eine intellektuelle Kapitulation vor der heiklen Frage, wann das Leben beginnt. Und eine juristisch verkleidete Verneinung der universellen Idee, dass Würde nicht verliehen wird, sondern mit dem Dasein beginnt – geboren oder nicht.

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Wenn diese Frau über Menschenwürde richten soll, dann Gnade uns das Grundgesetz. Und die ungeborenen Kinder erst recht.

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