
Stellen wir uns einen Moment vor – nicht zu lang, sonst wird uns schwindelig –, die Menschheit beschließt, das Erdöl vollständig aus ihrem Leben zu verbannen. Radikal. Restlos. Total. Kein Tropfen mehr für den Tank, kein Gramm mehr für die Fabrik. Keine Schlupflöcher, keine Ausnahmen, keine Alibimaßnahmen, bei denen am Ende doch wieder ein Tanker aus Katar in Rotterdam entladen wird, während in Talkshows über grüne Transformation palavert wird.
Nein, ein echter, kompromissloser Ausstieg. Erdöl? Weg. Für immer. Der Stoff, der seit über einem Jahrhundert wie ein dunkler Zaubertrank unsere Zivilisation schmiert, befeuert, verpackt, konserviert, kosmetisiert, bequemer macht – abgestellt. Einfach so. Abgedreht wie ein Ölhahn an der Tankstelle, dessen Benzinzapfpistole ein letztes Mal klackend in den Halter zurückschnappt. Und während wir so tugendtrunken applaudieren, stellt sich die Frage: Was nun?
Denn der Verzicht auf Erdöl ist nicht der Verzicht auf „nur mal schnell das Auto stehen lassen“. Es ist nicht der Rückzug ins Homeoffice mit einem veganen Latte im Emaillebecher. Es ist die freiwillige Rückkehr in eine Welt, in der selbst der Becher nicht mehr existiert. Weder aus Kunststoff noch beschichtet mit irgendeinem Lack, der auf Polymeren basiert. Der Latte läuft dann direkt durch die porösen Tonwände hindurch auf den frisch gebohnerten Lehmboden. Bio, aber eben nass.
Die Rückkehr des Homo Natura oder: Barfuß im Brennnesselfeld
Ohne Erdöl stehen wir nackt da. Und das ist wörtlich gemeint, nicht metaphorisch. Polyester, Nylon, Acryl? Adieu. Der Jogger in seiner atmungsaktiven Funktionskleidung muss sich wieder in den selbstgestrickten Schafwollpulli zwängen, der beim ersten Regenschauer nach Hamm und Stall riecht. Wer auf veganes Leder schwört, wird bitter feststellen, dass auch Kunstleder nun mal aus Polyvinylchlorid besteht – das wiederum aus Erdöl stammt. Der Verzicht auf Öl bedeutet also entweder echtes Leder oder gar kein Leder. Tierquälerei oder Nacktheit. Dazwischen? Nichts als das schroffe Jenseits der Konsequenz.
Die Zahnseide? Plastikfaden, weg. Der Duschvorhang? Polyethylen, weg. Die Dichtung am Wasserhahn? Synthetischer Kautschuk, weg. Das Kondom? Latex mit Additiven auf Erdölbasis, weg. Herzlich willkommen im post-petrochemischen Zeitalter, wo selbst der Liebesakt wieder Risiken birgt, die man seit den 1950ern für erledigt hielt.
Wir leben dann in einer Welt, in der Zahnpasta nicht mehr in der Tube daherkommt, sondern wieder in der Büchse oder auf dem Löffel. Von Mikroplastik keine Spur – aber auch von Emulgatoren, Tensiden und filmbildenden Weichmachern nicht. Unsere Haare werden stumpf sein wie die Borsten eines alten Besens, die Haut spannt, und der Lippenstift? Den gibt es nicht mehr. Auch nicht den veganen. Der war nämlich auch aus Paraffin.
Die große Desinfektion der Hybris oder: Wie wir lernten, den Krankenhauskeim zu lieben
Die Medizin? Sterile Einwegprodukte sind Geschichte. Keine Plastikspritzen mehr, keine Schläuche, keine Infusionsbeutel, keine OP-Masken (außer aus Baumwolle, von der Oma gehäkelt). Prothesen? Unpraktisch ohne Kunststoffe. Herzkatheter? Unmöglich. Auch das Dialysegerät ist dann nur noch ein dekorativer Kupferkessel.
Die Pharmaindustrie muss sich von ihren öligen Trägerstoffen verabschieden. Pillen ohne Beschichtung, Salben ohne Basis, Kapseln ohne Gelatinehülle. Der Arzt wird wieder zum Bader, der Apotheker zum Alchemisten, der mit Mörser und Pestle am Hof der Moderne zerriebene Kräuter verkauft. „Hier, ein bisschen Beinwell gegen den Bandscheibenvorfall. Und bitte aufpassen, es könnte zu inneren Blutungen kommen.“ Die Sterilisation? Wird wieder mit offenem Feuer erledigt. Praktisch, weil dann sowieso alles brennt.
Der Bauernhof als Hightechzentrum der Zukunft oder: Der Mist ist der neue Dünger
Auch die Landwirtschaft muss zurück auf Los. Ohne Kunstdünger, ohne Pestizide, ohne erdölbasierte Herbizide. Der Ertrag schrumpft, der Hunger wächst. Bio für alle klingt charmant, ist aber in Wirklichkeit ein Codewort für: „Esst, was der Boden hergibt – und wenn er nichts hergibt, esst nichts.“ Die Kartoffelernte bleibt mager, weil der Kartoffelkäfer in Ermangelung chemischer Schädlingsbekämpfungsmittel ein goldenes Zeitalter erlebt. Der gute alte Mist ist wieder der Dünger der Stunde. Nur dumm, dass auch der ausstirbt, wenn wir die industrielle Tierhaltung verbieten, was ja im selben Atemzug miterledigt werden soll.
Die Bauindustrie? Ein Fanal der Renaissance-Ästhetik. Dämmstoffe, Farben, Lacke? Alles bislang auf Erdölbasis. Die Neubauten werden daher eher wie mittelalterliche Burgen aussehen: massiv, kalt, feucht und schwer zu heizen. Immerhin: Klimaneutralität ist garantiert, weil niemand mehr wohnen will.
Das Ende der Elektronik oder: Der letzte Blick ins Display
Und dann noch die Hightech. Die Smartphones, Laptops, Solarpanels, Elektroautos. Alles voller Kunststoffe, Spezialharze, Isoliermaterialien, Gehäusekomponenten, Lithium-Ionen-Akkus mit Polymer-Elektrolyten. Die Digitalität basiert auf dem Ölzeitalter wie der Buchdruck auf dem Bleisatz. Der Versuch, ein „grünes“ Smartphone zu bauen, endet spätestens beim ersten Kurzschluss, weil ohne petrochemische Isolierungen der Strom den Weg des geringsten Widerstands nimmt – quer durch den Anwender.
Ohne Erdöl wird auch der Fortschritt dekarbonisiert – nicht im Sinne von CO2-frei, sondern im Sinne von: vorbei.
Die Moral der Geschichte oder: Apokalypse ist auch nur eine Form von Konsequenz
Man könnte fast meinen, wir hätten uns in den letzten Jahrzehnten in eine süßlich schimmernde Plastikkugel eingesponnen, wie die Made in der PET-Flasche. Nun steht der Vorschlag im Raum, diese Kugel zu verlassen – der Totalentzug von Erdöl als Therapieansatz für eine fossil-abhängige Zivilisation. Der kalte Entzug, ganz ohne Methadonprogramm. Und das alles für das höhere Ziel der Klimarettung. Das Problem ist nur: Wir haben uns so umfassend auf das schwarze Gold eingelassen, dass wir gar nicht mehr wissen, wie Leben ohne es geht.
Klar, wir könnten es lernen. Alles ist lernbar, selbst der Verzicht auf Komfort. Doch die Frage bleibt, ob wir das auch wollen. Und ob wir es aushalten.
Denn eines steht fest: Der völlige Ausstieg aus dem Erdöl ist nicht nur das Ende der Plastikgabel und des SUV – es ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Und womöglich der Beginn einer neuen. Vielleicht besseren. Vielleicht ärmeren. Vielleicht nackt, frierend und mit Bienenwachs auf den Lippen statt Labello.
Oder – wie es der Mensch so gerne tut – wir suchen wieder nach einem Kompromiss. Ein bisschen Ausstieg, ein bisschen Erdöl, ein bisschen Apokalypse light.
Denn der Mensch liebt es nun mal, den Untergang zu vertagen. Bis morgen. Oder übermorgen. Vielleicht auch bis nach der nächsten Tankfüllung.