Massenexodus nach 1948
Man könnte meinen, die Welt habe ein bemerkenswert selektives Gedächtnis, das sich darin manifestiert, dass Millionen von Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, einfach so aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden – vorausgesetzt, sie tragen keine palästinensischen Fahnen oder lassen sich politisch instrumentalisieren. Über eine Million Juden flohen seit 1948 aus den arabischen Staaten und ab 1979 auch aus dem Iran, doch in den öffentlichen Debatten zum Nahen und Mittleren Osten tauchen sie nur dann auf, wenn es opportun erscheint. Die Pogrome in Oujda und Jérada 1948 oder der Farhud in Bagdad sind heute Anekdoten, die man höchstens in Fußnoten von Spezialhistorikern findet, während die Tatsache, dass Ende der 1930er-Jahre zwischen 25 und 30 Prozent der Bevölkerung Bagdads jüdisch waren – ein Anteil, der mit Warschau oder New York konkurrierte –, in den Schulbüchern Europas nicht mehr vorkommt. Ähnlich verschwindet die halbe Million Juden Nordafrikas vor 1948 wie Sand in der Wüste.
Der Exodus dieser Juden war umfassend, total und – man muss es wohl sagen – in der dramatischen Einfachheit seines Unrechts erstaunlich: Während die 700.000 Araber, die im Zuge der Staatsgründung Israels flohen, vor allem in Angst vor Krieg handelten, war die Flucht der Juden aus den arabischen Staaten weitgehend frei von unmittelbaren Kampfhandlungen. Es war kein Krieg, der sie trieb, sondern der Hass ihrer Nachbarn, gesetzlich legitimiert, moralisch gerechtfertigt oder schlicht opportunistisch praktiziert. Heute leben in den arabischen Ländern, aus denen einst Hunderttausende Juden stammten, nur noch Reste der einst blühenden Gemeinden: 2.000 von 250.000 in Marokko, 1.500 von 100.000 in Tunesien, weniger als 20 in Ägypten oder Irak – ein Bevölkerungssterben, das nicht durch Krieg, sondern durch Verachtung, Entrechtung und Vertreibung verursacht wurde.
Traditionen der Verachtung: Juden als Schutzbefohlene
Die Geschichte dieser Juden ist die Geschichte einer tolerierten Demütigung. Wer sich Illusionen über das Leben von Juden in islamischen Gesellschaften macht, sollte die Dhimma nicht romantisieren: Sie war kein Schutz, sondern ein Status der Unterwerfung, ein „toleriertes Leiden“. Von den Ritualmordbeschuldigungen im Osmanischen Reich bis hin zu blutigen Ausschreitungen in Tetuan, Bagdad oder Safed – die Gewalt gegen Juden in islamischen Gesellschaften war historisch verankert, wenn auch kontextualisiert durch religiöse Doktrinen und soziale Ordnungen. Die Radikalisierung des Antisemitismus im arabischen Raum des 20. Jahrhunderts – unterstützt durch nationalsozialistische Propaganda und ausgelöst durch die politische Selbstbehauptung von Juden – zeigt, dass Antisemitismus nicht erst nach 1948 entstand: Er war ein traditionsverankerter, ideologisch aufgeladener Reflex, der nur auf den passenden Funken wartete.
Intellektuelle wie Hassan al-Banna, Sayyid Qutb oder Malek Bennabi fanden im Hass auf Juden und Moderne eine willkommene Projektionsfläche: „Dies ist das Jahrhundert der Frau, des Juden und des Dollars.“ Es klingt fast schon wie ein antikes Meme, nur dass es Leben zerstörte. Der Antisemitismus in der arabischen Welt war kein Resultat des Zionismus; der Zionismus fungierte nur als Brennstoff für einen bereits vorhandenen Brand. Die „Schutzbefohlenen“ erhoben sich in Form des Staates Israel – und die arabische Welt reagierte nicht etwa differenziert, sondern kollektiv feindselig.
Israel: Auffanglager und Integrationslabor
Israel selbst stand 1948 vor der absurden Aufgabe, einem Exodus von historischer Dimension zu begegnen. Die Aufnahme von 260.000 Flüchtlingen aus arabischen Ländern und später Hunderttausenden weiteren Juden war kein einfaches logisches Unterfangen, sondern ein logistisch-politisches Mammutprojekt, das zwischen restriktiven Einwanderungsquoten und spektakulären Luftbrücken pendelte. Die Operation Fliegender Teppich oder die Aktionen Ezra und Nehemiah klingen wie Mythen der Moderne: Luftbrücken aus dem Jemen, über 120.000 Juden aus dem Irak – eine Mischung aus Wunderwerk und bürokratischer Zwangsläufigkeit.
Die Integration der Mizrahim in Israel verlief nicht ohne Reibung. Die europäischen Ashkenasim betrachteten ihre neuen Brüder aus dem arabischen Raum nicht selten mit demselben skeptischen Blick, den man heutzutage Historikern entgegenbringt, die über den Farhud schreiben. Zeltlager, Ma’aborot, Entwicklungsstädte – die arabisch-jüdischen Flüchtlinge wurden integriert, aber nicht ohne sozialen Druck, Bildungsdefizite und die ständige Erinnerung an verlorenes Eigentum: geschätzte 300 Milliarden Dollar an Werten, Konfiszierung von Hunderttausenden Quadratkilometern Land, als ob das Schicksal selbst beschließen wollte, dass Ungerechtigkeit multipliziert wird.
Unsichtbare Flüchtlinge, sichtbare Politik
Es ist fast grotesk, dass während über 170 UN-Resolutionen das Schicksal palästinensischer Flüchtlinge thematisiert wurde, niemand über die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern sprach. Israel praktizierte stillschweigend einen Bevölkerungsaustausch: Man half den Juden, man erwartete von den Arabern, dass sie sich um die arabischen Flüchtlinge kümmerten. Kein Rückkehrrecht, keine internationalen Debatten, nur stille Integration und das subtile politische Verschwinden einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus dem kollektiven Gedächtnis der Weltöffentlichkeit.
Ein Funken Hoffnung: Historische Reflexion und Versöhnung
Doch Geschichte ist kein statisches Monument. Die Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien, die offiziellen Beziehungen zu den Emiraten, Bahrain, Oman, Marokko und Sudan zeigen, dass Aussöhnung möglich ist. Dass dabei eine leise Renaissance jüdischen Lebens in Bahrein und die Abschwächung antisemitischer Propaganda in Saudi-Arabien stattfinden, mag klein wirken – aber jeder Schritt beginnt mit der Anerkennung von Geschichte. Die Reflexion über Diskriminierung, Verfolgung und Flucht der Juden aus den arabischen Ländern könnte zu einem realistischeren Verständnis des Zionismus führen und einen Beitrag zu zukünftiger Friedensarbeit im Nahen Osten leisten.
Denn am Ende ist die Geschichte dieser unsichtbaren Flüchtlinge eine Geschichte von Resilienz, Überleben und Integration – und vielleicht, nur vielleicht, auch ein Lehrstück darüber, wie selektive Erinnerung die Weltpolitik formt, während Millionen von Schicksalen still unter dem Teppich der Geschichte verschwinden.