Die träge Apokalypse des Denkens

Sie warnte uns vor siebzig Jahren, und wir… wir taten, was Menschen am besten können: wir hörten mit halbem Ohr zu, nickten, tippten, scrollten, und gingen zurück in unsere kleinen digitalen Höhlen, in denen jeder Meinungskanon so sorgfältig poliert war wie ein Instagram-Feed, während die Welt leise in die Hölle tappte, auf Zehenspitzen, ohne dass wir es merkten. Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, Jüdin, Flüchtling, Überlebende, Chronistin des Wahnsinns, sah, was passiert, wenn Menschen aufhören zu denken: nicht, weil sie böse sind – das Böse ist eine zu einfache Übung, fast schon ein Yoga für Anfänger –, sondern weil sie kapitulieren. Weil sie müde werden, die Wahrheit zu suchen, weil sie entscheiden, dass es einfacher ist, alles als „Meinung“ abzutun, als zu prüfen, zu hinterfragen, zu atmen in einer Welt, die plötzlich keine Atemluft mehr bietet, nur noch heiße, stickige Propagandaluft.

Der Untertan, der nicht mehr weiß, was real ist

In „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schrieb Arendt, dass der ideale Untertan nicht der glühende Nazi ist, nicht der fanatische Kommunist, sondern der, der aufgehört hat, die Welt zu unterscheiden zwischen Fakt und Fiktion, zwischen wahr und falsch. Lies es nochmal, langsam, als würdest du versuchen, ein unscharfes Foto zu entziffern, auf dem alles verschwommen ist: der ideale Untertan ist der, der denkt, dass alles gleichwertig ist – die Zeitung, das Meme, die Verschwörung, die Floskel, die eigene Lüge. Nicht der Überzeugte, nein – der Ermüdete, der Zynische, der Gleichgültige. Genau der. Der perfekte Konsument der totalitären Langeweile.

Es geht nicht um Überzeugung, es geht um Resignation. Überzeugung ist unbequem, sie erfordert Muskeln, Rückgrat, Blutdruck. Resignation dagegen ist bequem. Sie ist das Netflix der menschlichen Geisteshaltung. „Ach, egal“, seufzt der Untertan, während draußen die Welt brennt, und Arendt schaut ihm zu und seufzt leiser, weil sie weiß: Müdigkeit ist die leise Vorhut des Totalitarismus.

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Die Lüge als Dauerberieselung

Lügen sind nicht einfach falsch. Lügen sind Dauerberieselung. Lügen sind die subtilen Bakterien, die nach und nach alles zersetzen, was an klarer Wahrnehmung übrig war. In „Wahrheit und Politik“ zeigt Arendt, dass die wahre Gefahr nicht in der offensichtlichen Lüge liegt – die kann man noch widerlegen –, sondern in der Flut von ununterscheidbaren Fiktionen, im permanenten Zweifel, in der Verunsicherung, die irgendwann so tief sitzt, dass Menschen lieber aufgeben, als noch einmal zu prüfen. Wer einmal resigniert, atmet nur noch das Gas der Gleichgültigkeit ein und aus. Das ist das Meisterwerk totalitärer Propaganda: nicht der Triumph der Lüge, sondern der Sieg der Erschöpfung.

Und wir? Wir scrollen, wir liken, wir retweeten, während die Welt untergeht, und wundern uns, warum alles so gleichgültig schmeckt, warum Moral und Wahrheit zu altmodischen Konzepten geworden sind, wie VHS-Kassetten in der Digitalära.

Müdigkeit, das unsichtbare Panzerfahrzeug

Totalitarismus beginnt nicht mit Panzern, er beginnt mit Gähnen. Mit „Man kann ja eh keinem trauen“ und „Alle lügen doch“. Mit der Versuchung, wegzusehen, während die Flammen züngeln. Die Zerstörung der Urteilskraft ist ein unsichtbares Panzerfahrzeug, das durch unsere Gehirne rollt, und wir denken: „Ach, das geht schon irgendwie vorbei.“ Nein. Es geht nicht vorbei. Es rollt, es zerstört, und wir winken lächelnd, weil wir zu müde sind, den Kopf zu heben.

Arendt sagt uns: Denken ist die letzte Bastion. Nicht die Ansammlung von Meinungen, nicht das Abfeiern von Parolen, nicht das Posten von #Freiheit auf Social Media. Echtes Denken. Fragen stellen. Widersprüche aushalten. Sich wundern. Wer das aufgibt, der ist verloren, auch wenn er denkt, dass er gewinnt. Radikalster Revolutionär am Tag nach der Revolution? Ein konservativer Schlafwandler, der nicht mehr prüft, was Recht und Unrecht, was wahr und falsch ist.

Die stille Katastrophe

Hannah Arendt starb 1975. Doch heute ist ihre Stimme lauter als jede Fake-News-Kampagne, als jeder algorithmisch optimierte Empörungssturm. Hüte deine Fähigkeit zu denken. Prüfe. Unterscheide. Widerspreche, auch wenn es weh tut. Denn wenn du aufhörst, dich um die Wahrheit zu kümmern, verlierst du alles: Freiheit, Würde, die winzigen Funken von Klarheit, die uns menschlich machen. Alles andere ist Netflix, scrollen, Ermüdung, Gleichgültigkeit – und der perfekte Untertan, erschöpft, gelangweilt, unkritisch. Wir lachen über uns selbst, während wir durch die Asche tanzen.

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Arendt hätte gelacht, vermutlich bitter. Und wir? Wir blinzeln, müde, aber immerhin wach genug, um zu erkennen, dass wir jetzt handeln müssen – oder uns auf die nächste Müdigkeitswelle vorzubereiten, die uns endgültig das Denken raubt.

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