Die stillste Heldin des lautesten Jahrhunderts

Das 20. Jahrhundert hat ja keinen Mangel an Helden hervorgebracht. Man stolpert über sie, wie über Pflastersteine im Kopfsteinpflaster der europäischen Geschichte – alle kantig, alle „notwendig“, alle in den Lehrplänen auf Hochglanz poliert. Helden, die erhoben werden, damit wir ihre Schicksale konsumieren können wie moralisch zertifizierte Müsliriegel: reich an Ballaststoffen für die kollektive Schuldverdauung. Und mitten in dieser Kakophonie, wo Generäle, Kanzler, Widerstandskämpfer und Nobelpreisträger ihre Plätze beanspruchen, steht – nein, schweigt – eine Figur, die überhaupt nichts beansprucht. Ottla Kafka. Kein Manifest, keine Rede, keine Fahne. Nur ein schlichtes „Ich gehe mit.“ Und siehe da: Schon wird die größte Heldentat des Jahrhunderts zu einem Satz, der nicht einmal die Länge eines Befehlshaberschnauzers misst.

Bürokratie der Hölle und das leise „Nein“

Denn man muss es sich ja vor Augen führen: Auschwitz, diese abgründige Verwaltungsmaschinerie, war nicht das Werk von wilden Bestien, die mit Messern durch den Wald jagten, sondern von Klemmbrettern, Stempeln und sorgfältig ausgefüllten Formularen. Es war eine Fabrik der Zahlen, in der Menschen nur noch „Stückgut“ hießen. Und mittendrin eine Frau, die den größten bürokratischen Affront wagte: Sie meldete sich freiwillig. Freiwilligkeit, dieses Wort, das sonst nach Sportverein oder Blutspende klingt, wurde hier zur subversiven Geste. Sie unterlief die Logik des Systems nicht mit einer Bombe, nicht mit einem Flugblatt, sondern mit der radikalsten Form menschlicher Zuwendung: einem schlichten Akt des Beistands. Und man stelle sich die Gesichter der uniformierten Automaten vor, wie sie auf ihre Listen schauten und den Stift kurz zögerten: „Wie bitte, Sie wollen da mit?“ Die Maschine stockte – nicht, weil sie zerstört war, sondern weil sie für einen Moment mit Menschlichkeit gefüttert wurde, einem Stoff, den sie schlicht nicht verarbeiten konnte.

Die Mär vom großen Heldentum

Helden, so belehrt uns die Geschichtsschreibung, sind ja normalerweise jene, die etwas verändern. Die „Tat“ muss zählbar sein, im besten Fall eine Wende herbeiführen. Ottla Kafka hat niemanden gerettet. Kein einziger SS-Mann stürzte vom Blitz des Gewissens getroffen tot zu Boden, kein Transport entgleiste, kein KZ-Kommandant begann zu weinen und ließ die Kinder frei. Nein, sie wusste genau: Das Ende bleibt gleich. Und genau darin liegt das Ungeheuerliche – dass man im Wissen um die Wirklosigkeit dennoch handelt. Wir, die wir uns schon beim Überqueren einer roten Ampel für Revolutionäre halten, sollten an dieser Stelle einen Moment die Luft anhalten. Denn hier beginnt das Heldentum nicht bei der Wirkung, sondern beim Willen. Ein Heldentum ohne Happy End, ohne Pathos, ohne Hollywood-Soundtrack. Kurz gesagt: eines, das sich überhaupt nicht für die gängigen Narrationen eignet. Und gerade deshalb wird es nicht groß inszeniert, sondern – wie so vieles bei den Kafkas – eher leise hingenommen.

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Erinnerungskultur mit Beipackzettel

Natürlich, man könnte nun rufen: „So etwas muss man viel stärker würdigen!“ Und sofort würde ein Ausschuss gebildet, der eine Gedenktafel in Auftrag gibt. Auf der Tafel stünde dann: „Hier starb Ottla Kafka, sie begleitete Kinder.“ Und daneben würde man QR-Codes für Schulklassen anbringen. Ein feierlicher Redner würde die moralische Botschaft in Sonntagsanzugtonlage vortragen, während die Kinder verstohlen aufs Handy schauen. Und schon wäre alles wieder eingehegt, musealisiert, abgehakt. Erinnerungskultur funktioniert nämlich wie ein Beruhigungsmittel: Wir nehmen sie ein, wir fühlen uns gut, und wir schlafen danach besser. Die eigentliche Zumutung – dass da jemand freiwillig in den Tod ging, nur um ein paar Fremdenkindern die Hand zu halten – bleibt im Hals stecken wie ein Kloß, den man weder schlucken noch ausspucken kann.

Die Kafkaeske Pointe

Und natürlich, wie könnte es anders sein, trägt sie den Namen Kafka. Der Bruder schrieb über die erstickende Bürokratie, die Menschen verschlingt, über Türen, die nie aufgehen, und Prozesse, die nie enden. Sie selbst schrieb kein Buch – sie war eines. Ihr letzter Akt: ein Gegenkapitel zu all der kalten Logik, die den Menschen in Zahlen zerlegte. Und wenn Franz Kafka in seiner Prosa den Menschen in einem undurchdringlichen Labyrinth verlor, so zeigte seine Schwester, dass man selbst im allerdunkelsten Labyrinth noch entscheiden kann, wie man geht. Nicht der Ausgang zählt, sondern die Haltung. Eine stille Heldin, die nichts sagt – und damit mehr spricht als alle, die heute mit erhobenem Zeigefinger von Moral und Mut schwadronieren.

Stumme Heldin

Die stillste Heldin des lautesten Jahrhunderts

Das 20. Jahrhundert hat ja keinen Mangel an Helden hervorgebracht. Man stolpert über sie, wie über Pflastersteine im Kopfsteinpflaster der europäischen Geschichte – alle kantig, alle „notwendig“, alle in den Lehrplänen auf Hochglanz poliert. Helden, die erhoben werden, damit wir ihre Schicksale konsumieren können wie moralisch zertifizierte Müsliriegel: reich an Ballaststoffen für die kollektive Schuldverdauung. Und mitten in dieser Kakophonie, wo Generäle, Kanzler, Widerstandskämpfer und Nobelpreisträger ihre Plätze beanspruchen, steht – nein, schweigt – eine Figur, die überhaupt nichts beansprucht. Ottla Kafka. Kein Manifest, keine Rede, keine Fahne. Nur ein schlichtes „Ich gehe mit.“ Und siehe da: Schon wird die größte Heldentat des Jahrhunderts zu einem Satz, der nicht einmal die Länge eines Befehlshaberschnauzers misst.

TIP:  ALLES ANTIFA, ODER WAS?

Bürokratie der Hölle und das leise „Nein“

Denn man muss es sich ja vor Augen führen: Auschwitz, diese abgründige Verwaltungsmaschinerie, war nicht das Werk von wilden Bestien, die mit Messern durch den Wald jagten, sondern von Klemmbrettern, Stempeln und sorgfältig ausgefüllten Formularen. Es war eine Fabrik der Zahlen, in der Menschen nur noch „Stückgut“ hießen. Und mittendrin eine Frau, die den größten bürokratischen Affront wagte: Sie meldete sich freiwillig. Freiwilligkeit, dieses Wort, das sonst nach Sportverein oder Blutspende klingt, wurde hier zur subversiven Geste. Sie unterlief die Logik des Systems nicht mit einer Bombe, nicht mit einem Flugblatt, sondern mit der radikalsten Form menschlicher Zuwendung: einem schlichten Akt des Beistands. Und man stelle sich die Gesichter der uniformierten Automaten vor, wie sie auf ihre Listen schauten und den Stift kurz zögerten: „Wie bitte, Sie wollen da mit?“ Die Maschine stockte – nicht, weil sie zerstört war, sondern weil sie für einen Moment mit Menschlichkeit gefüttert wurde, einem Stoff, den sie schlicht nicht verarbeiten konnte.

Die Mär vom großen Heldentum

Helden, so belehrt uns die Geschichtsschreibung, sind ja normalerweise jene, die etwas verändern. Die „Tat“ muss zählbar sein, im besten Fall eine Wende herbeiführen. Ottla Kafka hat niemanden gerettet. Kein einziger SS-Mann stürzte vom Blitz des Gewissens getroffen tot zu Boden, kein Transport entgleiste, kein KZ-Kommandant begann zu weinen und ließ die Kinder frei. Nein, sie wusste genau: Das Ende bleibt gleich. Und genau darin liegt das Ungeheuerliche – dass man im Wissen um die Wirklosigkeit dennoch handelt. Wir, die wir uns schon beim Überqueren einer roten Ampel für Revolutionäre halten, sollten an dieser Stelle einen Moment die Luft anhalten. Denn hier beginnt das Heldentum nicht bei der Wirkung, sondern beim Willen. Ein Heldentum ohne Happy End, ohne Pathos, ohne Hollywood-Soundtrack. Kurz gesagt: eines, das sich überhaupt nicht für die gängigen Narrationen eignet. Und gerade deshalb wird es nicht groß inszeniert, sondern – wie so vieles bei den Kafkas – eher leise hingenommen.

TIP:  Nur eine Frage des Geschmacks

Erinnerungskultur mit Beipackzettel

Natürlich, man könnte nun rufen: „So etwas muss man viel stärker würdigen!“ Und sofort würde ein Ausschuss gebildet, der eine Gedenktafel in Auftrag gibt. Auf der Tafel stünde dann: „Hier starb Ottla Kafka, sie begleitete Kinder.“ Und daneben würde man QR-Codes für Schulklassen anbringen. Ein feierlicher Redner würde die moralische Botschaft in Sonntagsanzugtonlage vortragen, während die Kinder verstohlen aufs Handy schauen. Und schon wäre alles wieder eingehegt, musealisiert, abgehakt. Erinnerungskultur funktioniert nämlich wie ein Beruhigungsmittel: Wir nehmen sie ein, wir fühlen uns gut, und wir schlafen danach besser. Die eigentliche Zumutung – dass da jemand freiwillig in den Tod ging, nur um ein paar Fremdenkindern die Hand zu halten – bleibt im Hals stecken wie ein Kloß, den man weder schlucken noch ausspucken kann.

Die Kafkaeske Pointe

Und natürlich, wie könnte es anders sein, trägt sie den Namen Kafka. Der Bruder schrieb über die erstickende Bürokratie, die Menschen verschlingt, über Türen, die nie aufgehen, und Prozesse, die nie enden. Sie selbst schrieb kein Buch – sie war eines. Ihr letzter Akt: ein Gegenkapitel zu all der kalten Logik, die den Menschen in Zahlen zerlegte. Und wenn Franz Kafka in seiner Prosa den Menschen in einem undurchdringlichen Labyrinth verlor, so zeigte seine Schwester, dass man selbst im allerdunkelsten Labyrinth noch entscheiden kann, wie man geht. Nicht der Ausgang zählt, sondern die Haltung. Eine stille Heldin, die nichts sagt – und damit mehr spricht als alle, die heute mit erhobenem Zeigefinger von Moral und Mut schwadronieren.

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