Wie wir lernten, die Strafverfolgung zu lieben
Es ist ein eigentümliches Schauspiel, das sich dieser Tage auf der Bühne der Republik abspielt – ein Stück, das niemand bestellt hat, aber alle mitspielen müssen. Ein Stück, dessen Dramaturgie aus Paragrafen besteht, dessen Requisiten aus Tweets, Talkshows und moralisch aufgeladener Empörung gefertigt sind. Und während die Zuschauer applaudieren, weil sie glauben, es handle sich um eine moralische Reinigung, vollzieht sich in Wahrheit ein Akt der politischen Hygiene, der in seiner Wirkung weit gefährlicher ist als jede noch so plumpe Stammtischparole: Die Strafverfolgung als Waffe im Meinungskampf – der neue Stil, das neue Schwert, die neue Tugend.
Was früher der Knüppel war, ist heute der Strafantrag. Was früher die Zensurbehörde erledigte, erledigt heute die „Zivilgesellschaft“ mit digitaler Inbrunst. Und was früher ein Irrtum des Totalitären genannt wurde, gilt nun als notwendige Maßnahme im Dienste der Menschlichkeit. Man kann die Entwicklung nur als grotesk bezeichnen: Eine Gesellschaft, die sich selbst für frei hält, installiert freiwillig die Denkverbote, die einst von Diktatoren verordnet wurden – diesmal im Namen des Guten, versteht sich.
Von der Tugend zur Tugendpolizei
Natürlich – damit wir uns recht verstehen – ist niemand so töricht zu behaupten, dass Volksverhetzung kein Delikt sein sollte. Wer Menschenwürde mit Füßen tritt, soll den langen Arm des Gesetzes spüren, keine Frage. Aber was sich da in den letzten Jahren still und schleichend vollzogen hat, ist keine schlichte Anwendung des Rechts, sondern seine ideologische Umrüstung. Die Auslegung der Gesetze ist elastisch geworden wie das Gewissen mancher Aktivisten: Es dehnt sich, wo es passt, und zieht sich zusammen, wo es unbequem wird.
So kann ein Satz heute Volksverhetzung sein, morgen nur unglücklich formuliert, und übermorgen schon „kontextabhängig ironisch“. Entscheidend ist nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer es sagt und wie viele sich im Internet darüber empören. Der Rechtsstaat beugt sich dem moralischen Stimmungsbarometer – und der Staatsanwalt wird zum Erfüllungsgehilfen des Zeitgeists.
Das Strafrecht, einst das nüchterne Bollwerk gegen den Exzess, verwandelt sich in ein moralisches Instrumentarium, das je nach modischem Trend neu justiert wird. Ein bisschen Repression hier, ein bisschen Empörung dort – fertig ist die neue Ordnung der Anständigkeit.
Das Schweigen als neue Tugend
Man kann es förmlich hören, das Rascheln der Selbstzensur. Es ist das Grundrauschen unserer Zeit.
Nicht mehr die Worte sind frei, sondern nur noch jene, die sie zu zähmen wissen. Der geübte Zeitgenosse formuliert nicht mehr, was er denkt, sondern was noch gerade so durchgeht. Er prüft seine Sätze wie ein Chemiker den pH-Wert einer Flüssigkeit: Ist das schon zu sauer? Zu basisch? Zu riskant?
Julian Reichelt und Norbert Bolz – um zwei prominente Vertreter des Delinquententums der freien Rede zu nennen – werden sich vermutlich zu wehren wissen. Sie verfügen über Reichweite, juristische Expertise und die notwendige Portion Trotz. Aber der Preis ihrer Verteidigung ist hoch: Sie müssen in einem Klima kämpfen, in dem nicht mehr die Wahrheit zählt, sondern die richtige Haltung.
Andere jedoch – weniger sichtbar, weniger laut, weniger kampferprobt – werden das nicht tun. Sie werden ihre Meinung verschlucken, ihre Kritik dämpfen, ihre Sprache anpassen. Und so stirbt, wie stets in solchen Zeiten, zuerst der Diskurs – und dann, still und unauffällig, die Freiheit.
Der moralische Komplex: Wenn der Rechtsstaat zur Religion wird
Der moderne Mensch hat den Glauben an Gott verloren, aber nicht das Bedürfnis nach Sünde und Erlösung. Also hat er sich neue Sakramente geschaffen: Haltung, Bewusstsein, Empörung. Die neuen Gebote lauten nicht mehr „Du sollst nicht töten“, sondern „Du sollst korrekt sprechen“. Und wehe dem, der das falsche Pronomen gebraucht oder die falsche Frage stellt – er hat sich des Sakrilegs schuldig gemacht.
Die Justiz wird in diesem System zur Inquisition im Designeranzug. Sie zitiert vor, verhört, belehrt – nicht um Gerechtigkeit zu üben, sondern um Zeichen zu setzen. Strafverfahren als moralische Rituale: öffentliche Buße für unlautere Gesinnung.
Es ist, als würde der Staat plötzlich Theater spielen – aber die Zuschauer merken nicht, dass sie selbst die Komparsen sind.
Erinnerungen an eine freiheitlichere Zeit
Vor fünf Jahren – eine Ewigkeit in Zeiten des moralischen Fortschritts – schrieb ich ein Buch über genau diese Entwicklung. Ich hielt sie damals für besorgniserregend. Heute halte ich sie für toxisch. Die Angst hat sich verfeinert, institutionalisiert, verrechtlicht.
Die liberalen Ideale, einst das stolze Fundament der westlichen Moderne, wirken inzwischen wie die Patina einer vergangenen Epoche. Man beruft sich noch auf sie, wie man auf alte Familienfotos blickt: „Schau, so jung waren wir damals, als wir noch an Meinungsfreiheit glaubten.“
Die Ironie der Geschichte: Die Gesellschaft, die sich einst der Aufklärung verschrieben hat, geht nun daran, die Aufklärung per Paragraph abzuschaffen – und nennt das Fortschritt.
Rettung durch Rückkehr: Ein Aufruf zur intellektuellen Ungehorsamkeit
Es ist höchste Zeit, umzukehren – nicht in die dunklen Zeiten der Verrohung, sondern in die hellen Zeiten der Vernunft. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass alles erlaubt ist; sie bedeutet, dass das Denken nicht bestraft wird. Wer diese Unterscheidung verwischt, begeht ein Sakrileg an der liberalen Idee.
Wir müssen lernen, den Widerspruch auszuhalten, die Dissonanz zu ertragen, den Dissens zu schätzen. Nur dort, wo jemand das Falsche sagen darf, kann das Richtige entstehen.
Wenn wir diese Lektion vergessen, werden wir bald in einer Gesellschaft leben, in der alle das Richtige denken – und keiner mehr denkt.
Nachsatz
Vielleicht wird man auch dieses Essay eines Tages als „grenzwertig“ betrachten. Vielleicht wird es gemeldet, geprüft, beanstandet, gelöscht. Und vielleicht wird man dann sagen, das sei der Preis der Zivilisiertheit.
Ich aber meine: Wenn Zivilisiertheit bedeutet, dass der Mensch sich selbst die Zunge bindet – dann ist sie nichts anderes als höflich getarnte Knechtschaft.