
Es gibt Bücher, die wie tote Pferde behandelt werden: Man schlägt nicht mehr darauf ein, weil es sich nicht mehr lohnt. Und es gibt Bücher, die wie tote Pferde behandelt werden, weil sie – in Wahrheit – noch immer galoppieren, wild, schnaubend, mit aufgerissenen Nüstern durch die Flure der Macht, der Medien, der Mittelstandshysterie. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus gehört zur zweiten Kategorie. Man nennt ihn einen Spinner, einen Sexguru, einen Krypto-Kommunisten mit Orgon-Akkumulator. Und das ist noch die freundliche Variante. Die unfreundliche: Ein Fall für die Anstalt. Doch wer das Buch tatsächlich liest – und damit ist nicht gemeint, es zu googeln oder sich durch Sekundärliteratur zu hangeln wie ein kulturkritischer Affe auf der Suche nach Erdnüssen – wird bald feststellen: Hier wird mit chirurgischer Präzision seziert, was heute wieder um sich greift. Nein, nicht nur am rechten Rand, nicht nur bei den identitär tätowierten Adonissen in Camouflage. Sondern auch in Yogakreisen, in Start-up-Inkubatoren, in Diversity-Workshops. Der Faschismus hat sich neu kostümiert, aber das Muskelzucken unterm Gewand, das hat Reich längst beschrieben. Wer also heute vor Faschismus warnt, ohne Reich gelesen zu haben, ist wie jemand, der über Krankheiten redet, ohne je in einem Körper gewohnt zu haben.
„Charakterpanzerung“ und Einhornfilter – über die neue Lust an autoritärer Selbstverblendung
Reichs zentrale These ist ebenso einfach wie unerträglich: Der Faschismus gedeiht nicht trotz, sondern wegen der inneren Bedürftigkeit der Massen. Nicht die Ideologie ist entscheidend, sondern die seelische Struktur, die sie inhalieren will wie ein Asthmatiker das letzte Spray. Der autoritäre Charakter, sagt Reich, ist nicht das Produkt politischer Indoktrination, sondern das Resultat frühkindlicher Unterdrückung, sexueller Verdrängung, familiärer Dressur. Heute nennt man das Bindungstrauma, Beziehungshölle oder schlicht: Coachingbedarf. Der moderne Mensch, zwischen Achtsamkeit und Amazon, hat den autoritären Impuls längst internalisiert – er gehorcht sich selbst, beutet sich freiwillig aus, optimiert seine Produktivität mit der neurotischen Gier eines KZ-Aufsehers mit Meditationshintergrund. Reich hätte darüber nicht gelacht. Er hätte vermutlich geweint. Oder masturbiert. Oder beides. Und der Charakterpanzer, den er beschreibt, existiert heute nicht mehr nur als sadomasochistische Sexualstruktur, sondern als Lifestyle-Dogma, als woke Empfindsamkeit, als digitaler Reinheitsfimmel. Was früher das Kreuz auf der Brust war, ist heute die CO₂-Bilanz auf der Verpackung. Nur dass man sich heute dafür besser fühlt. Früher war man autoritär und wusste es. Heute ist man autoritär und nennt es Verantwortung.
Der neue kleine Mann – über die Regression ins Lächerliche
Reichs „kleiner Mann“ war der Prototyp des autoritären Mitläufers: bieder, untervögelt, aggressiv nach unten, devot nach oben. Ein Mensch, der seine Angst vor Freiheit mit dem Ruf nach Ordnung überspielt. Heute trägt dieser kleine Mann Sneaker, trinkt Cold Brew Coffee und betreibt einen Podcast über toxische Männlichkeit – in dem er sich, natürlich, permanent entschuldigt. Der neue kleine Mann ist nicht mehr das autoritäre Familienoberhaupt, sondern der sensibilisierte Selbsthasser mit feministischer Tinder-Bio. Doch der Kern bleibt gleich: Die Angst vor echter Freiheit, vor echter Verantwortung, vor echter Nähe. Man hat gelernt, dass autoritäre Führer inakzeptabel sind – also wird das Führerprinzip internalisiert, als Selbstführung, als Kalenderstruktur, als Bullet Journal. Der kleine Mann von heute ruft nicht „Heil!“, sondern „Ich brauch meine Routine!“. Der Faschismus der Zukunft, so könnte man Reich aktualisieren, wird ein Faschismus der Selbstverwirklichung sein – mit Yoga, Yuzu-Limo und YouTube-Tutorials zum Thema „Wie du dein inneres Kind zur Räson bringst“.
Reich reloaded – Warum auch links nicht immun ist
Einer der unbequemen Aspekte an Reichs Analyse ist, dass sie auch die Linke nicht schont. Wer glaubt, Faschismus sei ein Phänomen der „anderen Seite“, hat weder Reich gelesen noch die Geschichte verstanden. Die autoritäre Struktur tarnt sich gern als progressive Bewegung. Der Moralismus, die Umerziehungsfantasien, das Bedürfnis, Abweichung nicht zu tolerieren, sondern zu exorzieren – das alles gibt es auch bei jenen, die sich für besonders emanzipiert halten. Der neue Antifaschismus trägt oft selbst autoritäre Züge: Er will Gesinnung kontrollieren, Sprache normieren, Schuld zuweisen. Reich würde sagen: Die neurotische Struktur bleibt bestehen – nur das Objekt der Projektion wechselt. Heute ist es der Klimaleugner, der Fleischesser, der Maskenverweigerer – morgen vielleicht der Ungeimpfte der neuen Generation: der Mensch mit zu wenig Filterblasenreinheit. Der neue Totalitarismus ist weichgespült, aber nicht weniger obrigkeitlich. Und das Tragische: Er glaubt, auf der richtigen Seite zu stehen. Wie jeder gute Faschist.
Orgon für alle! – Ein satirisches Plädoyer für die Revolution der Lust
Was also tun? Reichs Antwort war radikal, ungeschönt, heute beinahe komisch in ihrer Naivität: sexuelle Befreiung. Die Libido, nicht der Diskurs, ist das Terrain der Revolution. Wer frei lieben kann, braucht keine Führer. Wer seinen Körper kennt, lässt sich nicht dressieren. Doch natürlich hat man Reich dafür ausgelacht. „Der Mann will die Welt mit Orgasmen retten!“ Ja. Wollte er. Und vielleicht hatte er damit mehr Recht als all die Systemkritiker mit ihren Taschen voller Pamphlete und Podcasts. Was, wenn die autoritäre Struktur wirklich nur verschwindet, wenn der Mensch sich selbst spürt? Nicht als Idee, nicht als Ich-AG, sondern als atmendes, lustvolles, verletzliches Wesen? Dann wäre der nächste Schritt kein Wahlkampf, keine Demo, kein Hashtag – sondern ein kollektives, ekstatisches Sich-Ausziehen aus allen Panzerungen. Natürlich wird das nicht passieren. Stattdessen werden weiter Bücher geschrieben, Podcasts produziert, Empörung kanalisiert. Aber wenigstens wissen wir jetzt: Der Faschismus war nie nur politisch. Er war immer auch erotisch – oder vielmehr: das traurige Resultat ihrer Unterdrückung.
Schlusswort: Die Rückkehr des verdrängten Reichs – oder warum wir mehr spinnen sollten
Wilhelm Reich war unbequem. Er war exzentrisch. Er war oft schlicht verrückt. Aber genau deshalb war er seiner Zeit voraus – und ist unserer überlegen. In einer Ära, in der alles reguliert, moderiert, etikettiert wird, war er ein wildes Tier: schreibend, lebend, forschend mit einer Unbedingtheit, die heute nur noch KI-generierte Avatare simulieren. Die Tragik: Reich wurde von der Rechten gehasst, von der Linken verraten, von der Wissenschaft verspottet – und ist doch der Einzige, der das Unbehagen in der Kultur mit chirurgischer Tiefe verstanden hat. Heute wäre er vermutlich gesperrt auf Twitter, gelöscht auf YouTube, ausgeladen von jedem Debattencamp. Zu sexuell, zu unkontrolliert, zu echt. Aber genau das bräuchten wir. Nicht als Kultfigur. Sondern als das, was er war: ein Mensch, der uns zeigen wollte, wie wenig wir wirklich leben – solange wir nicht fühlen.
Ende. Oder besser: Anfang?