Deutschland, dieses Land der Ingenieure, Philosophen und gelegentlichen Tollpatsche, hat sich in den vergangenen Jahren in eine erstaunliche Position manövriert: Es steht – mit feinem Zwirn, ambitionierten Klimazielen und einer moralisch aufgeladenen Selbstüberhöhung – auf dem Bahnsteig der Geschichte und wundert sich, dass der Zug Wohlstandszuwachs pfeifend vorbeirauscht. Während man früher stolz behauptete, Lokführer des Fortschritts zu sein, hantiert man heute eher mit einer rostigen Trillerpfeife und ruft nach „Transformation“, als wäre das Wort selbst schon ein Generator für industrielle Wertschöpfung.
In dieses Gemisch aus Selbstmisstrauen, politischer Überhitzung und moralischem Glanzlack dringt nun die Stimme von Hans-Werner Sinn – Deutschlands bekanntester wirtschaftspolitischer Mahner, der schon seit Jahren versucht, der politischen Klasse zu erklären, dass man Wirtschaft nicht wie einen schlecht gelaunten Teenager behandeln kann, der sich einfach „beruhigt“, wenn man die Tür fest genug knallt. Seine Diagnose lautet, leicht verkürzt: Das Land hat sich selbst ins Knie geschossen, behauptet aber weiterhin, es habe nur nach den Sternen gegriffen – und sei dabei versehentlich auf den Abzug getreten.
Das Herz der Industrie – und warum es stolpert
Die Automobilindustrie, früher stolzes Sinnbild der deutschen Ingenieurskunst, inzwischen aber eher moralisches Feigenblatt und politisches Versuchslabor, bildet für Sinn das pulsierende Zentrum der Deindustrialisierung. Seit 2018 sei die Produktion um 22 Prozent eingebrochen – ein Wert, der in einem Land, das sich gerne mit exportweltmeisterlicher Brust aufplustert, an ein vitales Problem erinnert. Nicht irgendein Problem, nein: eine Art ökonomische Herzrhythmusstörung.
Und wie Diagnostiker so sind, legt Sinn den Finger in die schmerzhafteste Stelle: Der Niedergang sei kein Naturereignis, kein Orkan der Globalisierung, sondern „hausgemacht“, also politisch produziert, wie jene Lebensmittel, die als „aus regionaler Herstellung“ angepriesen werden, nur dass hier die Haltbarkeitsdauer eher gegen null tendiert. Der Glaube, durch moralisches Vorbild die Welt technologisch missionieren zu können, entpuppt sich in seiner Sicht als die vielleicht teuerste Form deutscher Selbstüberschätzung – eine Art hypermoralischer Ablasshandel, bezahlt mit Arbeitsplätzen und Wertschöpfung.
Das große Versprechen: Blau vom Himmel – grau im Alltag
Die Politik, so Sinn, habe den Menschen „das Blaue vom Himmel versprochen“. Eine Formulierung, deren poetische Wucht sich erst beim zweiten Hinsehen entfaltet: Man versprach ihnen grenzenlose Innovation, klimaneutrales Wachstum und eine Zukunft ohne Konflikte, Kosten oder Komplexität – und bekam stattdessen einen Ideologie-Flohmarkt, auf dem Fakten und Wunschdenken fröhlich durcheinander liegen.
Die Realität, nüchtern wie ein Betriebsprüfer, zeigt ein anderes Bild: Abwandernde Unternehmen, kollabierende Investitionsbereitschaft, steigende Energiepreise und eine Bevölkerung, die langsam den leisen Verdacht hegt, sie könnte in einem gigantischen Experiment gefangen sein, dessen Probanden unfreundlicherweise nicht gefragt wurden.
„Deutschland ist herzkrank geworden“, sagt Sinn. Ein Satz, der sich liest wie der Befund eines Kardiologen, der den Patienten liebevoll anschaut und sagt: „Es wäre Zeit, die Treppen zu meiden – oder gleich alles anders zu machen.“
Klimaziele jenseits der Physik
Wenn es um die deutschen Klimaziele geht, kommt Sinns Stimme ins Schlingern zwischen Sorge, Unglauben und einer Spur Resignation. „In 20 Jahren bei Null – ein Ding der Unmöglichkeit“, urteilt er. Nicht aus Zynismus, sondern weil Energieinfrastrukturen, anders als Wahlprogramme, bekanntlich nicht beliebig dehnbar sind.
Dass selbst das Bundesverfassungsgericht sich zu Fristen und Pfaden geäußert hat, wirkt wie ein ironisches Detail aus einem kafkaesken Roman: Die Judikative weist der Exekutive den Weg zu einem Ziel, das die Physik still beobachtet – mit jenem trockenen Humor, der Naturgesetzen eigen ist.
Sinns apokalyptische Deutung – „Bevor das umgesetzt wird, platzt unser System“ – klingt wie das Fazit eines alten Meisters, der lange genug gelebt hat, um zu wissen, dass man keine Marsmission mit einem alten VW-Käfer plant. Außer natürlich, man ist in Deutschland und erklärt das Ganze zur „Transformationsmaßnahme“.
Das Kernenergie-Paradox: Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Vernunft
Ein besonderes Kapitel der Sinn’schen Kritik entfaltet sich rund um die Entscheidung, 17 Kernkraftwerke abzuschalten – in einem Anfall politischer Endgültigkeit, ausgelöst durch ein Ereignis, das in technischer Hinsicht so weit entfernt war wie die Wahrheit vom politischen Betrieb.
Man könnte sagen, Deutschland habe sich energiepolitisch in den Kamin gesetzt und gewundert, warum es plötzlich kalt wird. Man hätte weiterhin günstigen, verlässlichen Strom haben können, doch stattdessen entschied man sich für die Rolle des moralischen Musterschülers, der seine Lösung wegwirft, weil sie nicht „rein“ genug wirkt.
Dass Sinn diesen Schritt als „unverständlich“ bezeichnet, ist fast schon ein Euphemismus. In seinen Worten klingt eher die Verzweiflung eines Mannes, der das Gefühl hat, der Logikunterricht sei in Berlin zu einer unverbindlichen AG geworden.
Der letzte Rettungsanker: der Volkswille
Sinn, der Realist, setzt letztlich auf demokratische Selbstheilungskräfte. Auf den Volkswillen, der, so seine Hoffnung, irgendwann genug vom pädagogischen Staat hat und die Politik zwingt, wieder zwischen Wünschenswertem und Machbarem zu unterscheiden.
Es ist ein fast romantischer Gedanke, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Tages aufstehen, sich die Nebelkerzen vom Leib schütteln und sagen: „Vielen Dank, liebe Regierung, für eure Visionen. Aber wir hätten jetzt gerne wieder Strom, Arbeitsplätze und ein bisschen Realitätssinn.“
Ob es so kommen wird? Die Zukunft bleibt ungewiss. Aber Hans-Werner Sinn hat zumindest den Finger erhoben – und zwar nicht moralisch, sondern analytisch.
Vielleicht, ganz vielleicht, reicht das ja schon, um in diesem Land wieder eine Diskussion zu beginnen, die nicht bei Ideologie anfängt und nicht bei Illusionen endet.