Die Parole als kollektives Placebo

„Wir schaffen das“ – 10 Jahre später

„Wir schaffen das“ – welch rhetorische Explosion von Selbstüberschätzung, verpackt in drei unschuldige Worte, die sich seit 2015 wie eine unauslöschliche Tätowierung ins kollektive Bewusstsein der Nation eingebrannt haben. Wer damals glaubte, dass damit realistische Politik betrieben werden könne, sollte spätestens beim zweiten Wohnungsnotfall, beim dritten überforderten Jugendamt oder beim zehnten Integrationsskandal erkennen: Worte schaffen keine Realität, sie schaffen nur Illusionen. Und dennoch, oder gerade deshalb, applaudierten wir alle – Politiker, Medien, Bürger – als handele es sich um den Auftakt einer heroischen Oper, deren Finale wir, so hofften wir, nicht erleben müssten.

Die Parole war von Anfang an ein Placebo, ein moralischer Hustensaft für eine Gesellschaft, die sich weder auf die Komplexität der Migration noch auf die Tragik der bürokratischen Realität vorbereitete. Merkel sprach nicht zu uns, sie sprach über uns – und die Nation nickte, weil die Stimme einer Mutterfigur zu hören, deren moralischer Imperativ die Ratio überdeckte, irgendwie beruhigend wirkte. Zehn Jahre später wird deutlich: „Wir schaffen das“ war nie ein Plan, es war die performative Geste eines politischen Systems, das sich selbst in moralischem Glanz sonnte, während die Realität unbeirrbar ihr eigenes Drama inszenierte.

Die totale Willkommenskultur: Ein politisches Theaterstück

Denn die Frage, die niemand laut stellte, war ja nicht, ob wir schaffen können, sondern ob wir wirklich alles schaffen wollen. Die totale Willkommenskultur – war sie ein Ideal, ein politisches Experiment oder schlicht die Flucht vor nüchterner Realität? „Wir schaffen das“ bedeutete moralische Erhöhung über praktische Umsetzbarkeit. Zehn Jahre später sehen wir, dass „schaffen“ alles und nichts bedeuten kann: Wohnungen schaffen wir nicht, aber Debatten. Bildung schaffen wir nicht, aber Bürokratie. Integration? Ein ewiges Labyrinth aus Formularen, Anträgen, Förderprogrammen, die mehr Orientierungslosigkeit stiften als Klarheit.

Die Ironie ist beinahe grotesk: Wir haben „alles geschafft“, nur eben nicht das, was wir eigentlich schaffen wollten. Wir schaffen Konflikte, wir schaffen Diskurse, wir schaffen Politiker, die heroisch scheitern, wir schaffen Medien, die sich selbst als moralisches Gewissen inszenieren – und am Ende schaffen wir nur, dass jeder Beteiligte sich in einem kollektiven Selbstlob suhlt, während die Realität unbeirrt weitermarschiert.

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Bürokratie als Königsdisziplin der Komik

Hier erreicht das Drama seinen Höhepunkt: die Bürokratie, jene mechanische Hydra der deutschen Verwaltung, deren Endlosformulare und absurden Zuständigkeitsketten selbst Kafka blass aussehen lassen würden. Zehn Jahre lang haben wir zugesehen, wie Menschen, die eigentlich nur einen Integrationskurs oder eine Wohnung brauchen, durch Labyrinthe geschickt wurden, die als satirische Meisterwerke einer dysfunktionalen Gesellschaft durchgehen könnten. Die Bürokratie hat nicht nur die Parole „Wir schaffen das“ ad absurdum geführt, sie hat sie gleich mit Hochdruck ironisiert.

Politiker standen daneben, sprachen von Erfolgen und „Fortschritten“, während die Realität ihre eigene Komödie schrieb. Jede Pressekonferenz, jeder Artikel, jede Talkshow wurde zum Theaterstück, in dem moralische Geste die Handlung ersetzte, und die Gesellschaft applaudierte – geblendet von rhetorischem Glanz, während die Welt um sie herum in chaotischer Unordnung versank.

Medien, Moral und die Illusion der Kontrolle

Und hier kommen die Medien ins Spiel: jene omnipräsenten Spiegel einer Gesellschaft, die glaubt, alles beobachten, analysieren und einordnen zu können. Zehn Jahre lang wurden Geschichten von Integration, von Heldentum der Ehrenamtlichen, von bürokratischem Versagen zu einem endlosen Strom von Headlines, die sich selbst als moralisches Urteil inszenierten. Alarmismus und Applaus wechselten sich ab wie schlechte Komiknummern. Objektivität? Eine Fußnote. Analyse? Überbewertet. Die Wahrheit? Sie schwimmt irgendwo zwischen Tweet und Kommentarspalte, während der Leser applaudiert, weil er moralisch beteiligt zu sein glaubt.

Die Medien haben die Parole „Wir schaffen das“ nicht nur begleitet, sie haben sie extrapoliert, zugespitzt, zu einem moralischen Imperativ stilisiert, der die gesellschaftliche Realität überlagerte. Zehn Jahre später erkennen wir: Die mediale Inszenierung hat das Chaos nicht gemildert, sie hat es glorifiziert.

Die Gesellschaft: Ein kollektives Augenzwinkern

Und die Gesellschaft selbst? Ein erstaunliches Schauspiel aus Ignoranz, Selbstüberschätzung und selektiver Wahrnehmung. Wir haben applaudiert, wir haben protestiert, wir haben uns empört – alles gleichzeitig. Wir wollten moralisch korrekt sein, ohne die Konsequenzen tragen zu müssen. Wir wollten die totale Willkommenskultur, solange sie bequem war. Zehn Jahre später zeigt sich: Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, die Moral über Realität stellt, Geste über Substanz, Hoffnung über Planbarkeit.

TIP:  Die unsichtbaren Fäden der Macht

Jeder „Erfolg“ der letzten Dekade – sei es in Integration, Bildung oder Wohnungsbau – ist begleitet von unzähligen Fehlschlägen, von absurden bürokratischen Hürden, von medialen Übertreibungen, die aus kleinen Errungenschaften Heldenepen machen. Alles scheint groß, alles scheint heroisch – und alles bleibt letztlich unvollständig.

Epilog: Heroische Illusionen und groteske Realität

Zehn Jahre später steht „Wir schaffen das“ da wie ein Denkmal der Ambivalenz, ein Prosagedicht auf die menschliche Tendenz, moralische Größe über praktische Fähigkeit zu setzen. Wir haben „geschafft“ – aber nur auf eine Art, die niemand wollte: Chaos, Konflikte, mediatisierte Komödien, bürokratische Labyrinthe.

Die Parole bleibt ein leuchtendes Beispiel für politischen Optimismus in seiner reinen, absurden Form, ein monumentales Zeugnis moralischer Selbstüberschätzung, das augenzwinkernd, polemisch und bitter zugleich ist. Wer auf die letzten zehn Jahre zurückblickt, erkennt: In jedem großen Scheitern steckt ein Stück heroische Illusion. Und „Wir schaffen das“ ist die Komödie und Tragödie unserer Zeit, die moralische Geste als Theater, Realität als unerbittlicher Regisseur.

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