Die neue Seuche der Nähe

Es gehört zu den hübscheren Ironien unserer spätmodernen Welt, dass unser „Wort des Jahres“ ausgerechnet parasozial lautet – ein Begriff, der klingt, als wäre er das Ergebnis eines Überfalls der Soziologie auf die Alltagssprache: man öffnet morgens verschlafen die Tür, und schon steht ein akademischer Begriff da, verlangt nach Kaffee und will partout in jedes Gespräch geschmuggelt werden. Doch das eigentlich Komische liegt darin, dass „parasozial“ nicht bloß ein Fachwort ist, sondern ein Symptom, das wir mit derselben stoischen Gelassenheit akzeptieren wie die ubiquitären Benachrichtigungsgeräusche unserer Telefone. Wir nennen es „Interaktion“, obwohl man streng genommen eher von einer emotionalen Einbahnstraße sprechen müsste – ein Gefühl, das so vertraut wirkt wie ein alter Bekannter, der nie wirklich existiert hat.

Der parasoziale Zustand ist unsere kollektive Blinddarmentzündung der Seele: häufig, lästig, nicht unmittelbar tödlich, aber zweifellos ein Beweis dafür, dass in unserem Organismus der Öffentlichkeit irgendetwas gründlich schiefgelaufen ist. Und während wir uns im Zeitalter hyperdigitalisierter Beziehungsillusionen mit erhobenem Smartphone zu immer signifikanteren Selbsttäuschungen aufschwingen, tun wir so, als sei das alles vollkommen normal, ja sogar wünschenswert.

Die große Halluzination der Nähe

Was ist parasozial? Nun, stellen Sie sich vor, Sie würden jeden Morgen mit einer Person frühstücken, die Sie nie getroffen haben, deren Stimme aber in Ihrem Kopf inzwischen eine Art diplomatische Vertretung Ihrer inneren Bedürfnisse geworden ist. Ein Influencer, Podcaster, Streamer, Content-Schamane oder beliebiger Medien-Mikrostar, dessen empathisch modulierte Redeweisen zur emotionalen Hausmusik Ihrer Existenz avanciert sind. Sie sehen ihn nicht nur; Sie fühlen ihn. Er spricht, und Sie nicken. Er schweigt, und Sie interpretieren. Er hat einen schlechten Tag, und Sie spenden Trost – oder zumindest einen Kommentar, dessen algorithmische Relevanz in keinem Verhältnis zu Ihrer eigenen emotionalen Investition steht.

Diese einseitige Beziehung, bei der nur eine Partei überhaupt weiß, dass die andere existiert – und zwar in der denkbar unwichtigsten Form eines anonymen, statistisch vernachlässigbaren Punktes im Datenrauschen – ist das neue Opium des Volkes. Und bevor Sie protestieren: Ja, natürlich glauben Sie, Sie seien dagegen immun. Genau wie jeder Raucher im Anfangsstadium sicher ist, dass er jederzeit aufhören könnte, wenn er wollte. Parasozialität ist die Zigarette der modernen Psyche, nur mit dem Unterschied, dass sie keine Warnbilder auf der Packung braucht, weil wir längst gelernt haben, unser eigenes Hirn hübsch genug zu arrangieren, um jeden Risikohinweis in eine charmante Ausrede zu verwandeln.

TIP:  Der blinde Fleck Europas

Die Illusion der Intimität als Geschäftsmodell

Die parasoziale Beziehung ist keineswegs ein Zufallsprodukt, sondern die ultimative Symbiose aus menschlicher Bedürftigkeit und kapitalistischer Raffinesse. Endlich hat die Werbeindustrie das erreicht, wovon sie seit Jahrzehnten träumte: eine emotionale Bindung, die so tief reicht, dass die Grenze zwischen persönlichem Wohlbefinden und monetarisierter Aufmerksamkeit zum ästhetischen Nebel verschwimmt. Jeder digitale Akteur ist inzwischen ein potenzieller Guru, Therapeut, Fitnesstrainer oder Lebensratgeber – und zwar mit jenem perfekten Timing, das nur durch Algorithmen möglich wird, die uns besser kennen als unsere eigenen Großmütter.

Diese Schimäre der Nähe wird von beiden Seiten bereitwillig aufrechterhalten. Der Creator gibt sich authentisch – ein Begriff, der sich inzwischen wie ein Etikett für moralisch-ökologisch angebauten Persönlichkeitsersatz anfühlt –, während das Publikum dankbar jede vermeintliche Offenbarung verschlingt. Tränen im Livestream? Mutig! Ein Geständnis über mentale Gesundheit? Inspirierend! Ein persönlicher Rückschlag? Heldengeschichte! Alles, was früher intime Tagebucheinträge gewesen wäre, wird heute zur dramaturgisch verwertbaren Währung im großen Markt der Aufmerksamkeit.

Die neue Aristokratie der Nähe

Aber wie jede gesellschaftliche Entwicklung bringt auch die Parasozialität ihre eigene Hierarchie hervor. Es gibt nicht nur die Könige der Reichweite, sondern auch die Fußsoldaten der emotionalen Hingabe – jene anonymen Nutzer, die mit unerschütterlicher Loyalität jede Story schauen, jeden Vlog kommentieren, jede Merch-Kollektion kaufen, als liege darin die heilige Aufgabe ihrer Generation. Sie bilden eine Art digitalen Bauernstand, der die neuen Fürsten des Einflusses mit emotionaler Arbeitskraft versorgt.

So entsteht eine höfische Struktur, die erstaunlich stabil ist: ganz oben die omnipräsenten Lichtgestalten, darunter die Scharen der Treuen, die sich gegenseitig in Kommentarspalten bekämpfen, als ginge es um territorialen Anspruch. Und irgendwo dazwischen wir alle, die mit einer Mischung aus Faszination, Müdigkeit und leichtem Ekel feststellen, dass wir längst Teil eines Systems geworden sind, das wir eigentlich belächeln wollten.

Der Mensch im Zeitalter der imaginierten Beziehungen

Vielleicht ist die Parasozialität aber gar kein Problem, sondern nur der neueste Evolutionsschritt der menschlichen Sehnsucht nach Verbindung. Schließlich war der Mensch immer schon bereit, an erfundene Figuren zu glauben – Götter, Helden, Literaturcharaktere, politische Führer mit besonders überzeugender Rhetorik. Der einzige Unterschied: Heute sind unsere Projektionsflächen interaktiv. Sie sprechen zurück, zumindest in einem Ausmaß, das den Eindruck erweckt, wir seien nicht nur Zuschauer, sondern Teilnehmende.

TIP:  Die Wahrheit in der Falle

Doch je näher uns diese Figuren scheinen, desto schärfer spüren wir die eigene Einsamkeit, die wie ein Echo in allen parasozialen Bindungen mitschwingt. Die große Ironie ist, dass wir uns in einem Ozean von Verbindungen ständig allein fühlen – als wären diese digitalen Intimitäten nur ein ungewaschenes Pflaster auf einer Wunde, die längst genäht werden müsste.

Nachspiel: Die Zukunft der Einseitigkeit

Wird die Parasozialität verschwinden? Unwahrscheinlich. Sie ist zu bequem, zu alltagskompatibel, zu perfekt in eine Gesellschaft eingepasst, die gleichermaßen Nähe sucht und Angst vor echter Verletzlichkeit hat. Vielleicht wird sie sogar zur Grundform des zukünftigen Miteinanders: eine Welt, in der jeder mit allen verbunden ist, aber kaum jemand mit irgendwem.

Und so bleibt uns nur, dieses Wort des Jahres mit einem gewissen Galgenhumor zu akzeptieren – als Diagnose, als Spiegel, als Mahnung und als charmante Erinnerung daran, dass wir Menschen es mit Beziehungen nie leicht hatten. Ob real oder parasozial: Nähe war schon immer ein riskantes Unterfangen. Nur, dass wir heute wenigstens darüber lachen können. Und klicken. Und liken. Und kommentieren. Ein Hoch auf unsere kleinen Einbahnstraßen der Zärtlichkeit, die wir Beziehungen nennen, solange sie uns nicht wehtun.

Please follow and like us:
Pin Share