Die Liebe zum moralisch handlichen Leichnam

»People Love Dead Jews« – dieser Satz ist so unerquicklich wie treffend, so unhöflich wie präzise. Er kratzt an einem Selbstbild, das sich gern als aufgeklärt, empathisch und geschichtsbewusst inszeniert, dabei aber eine ganz besondere Form der Bequemlichkeit kultiviert: die Zuneigung zu Juden, die nichts mehr sagen können. Tote Juden widersprechen nicht. Sie verlangen keine Solidarität im Jetzt, keine Positionierung im Streit, keine Zumutung im Alltag. Sie stellen keine unbequemen Fragen zur Gegenwart, zu Israel, zu Antisemitismus in linker, rechter oder migrantischer Gestalt. Sie liegen still, würdevoll, ästhetisch verfügbar. Und genau deshalb eignen sie sich so hervorragend als moralisches Rohmaterial. Man kann sie auf Denkmäler stellen, in Schulbücher drucken, in Sonntagsreden beschwören – und neuerdings eben auch mit modischen Accessoires ausstatten, die sie in den Dienst aktueller politischer Erzählungen stellen. Der tote Jude ist die vielleicht flexibelste Projektionsfläche der westlichen Moralindustrie.

Anne Frank als Leinwand der guten Absichten

Dass es wieder einmal Anne Frank trifft, ist kein Zufall, sondern beinahe zwangsläufig. Anne Frank ist die Heilige der säkularen Erinnerungskultur, das jüdische Kind, das niemand hassen darf, weil es tot ist, jung war und Tagebuch schrieb. Sie ist unschuldig genug, um universell zu sein, und konkret genug, um emotional zu wirken. Genau darin liegt ihre Gefährdung. Denn wer Anne Frank instrumentalisiert, kann sich fast sicher sein, nicht sofort als Zyniker erkannt zu werden. Man meint es ja gut. Man will doch nur mahnen, erinnern, verurteilen – Gewalt, Unterdrückung, Unfreiheit, das ganz große Böse in all seinen Erscheinungsformen. Dass man dabei aus einem konkreten jüdischen Schoa-Opfer eine abstrakte Weltgewissensfigur macht, fällt unter Kollateralschaden. Oder unter Kunstfreiheit. Oder unter engagierte Zeitdiagnose.

Wenn Anne Frank im Potsdamer Museum eine Kufiya trägt, dann ist das kein harmloser ästhetischer Einfall, sondern ein symbolischer Gewaltakt. Es ist die Enteignung einer historischen Person zugunsten einer politischen Botschaft. Die Kufiya ist kein neutrales Tuch, kein universelles Zeichen des Leids, sondern ein hoch aufgeladenes Symbol eines spezifischen nationalen Konflikts. Wer sie Anne Frank umlegt, erklärt ihr Leben, ihr Sterben und ihre Ermordung zur bloßen Folie für eine gegenwärtige Anklage – und diese Anklage richtet sich, man muss es nicht einmal zwischen den Zeilen lesen, gegen Israel. Aus dem jüdischen Opfer der Deutschen wird eine moralische Zeugin gegen den jüdischen Staat. Dialektik nennt man das wohl nur, wenn man sehr großzügig ist.

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Der Universalismus als moralischer Fleischwolf

Natürlich spricht der Künstler vom Universellen. Das tun sie immer. Universell ist das Zauberwort, mit dem jede historische Spezifität weichgekocht wird, bis sie in jede beliebige politische Suppe passt. Anne Frank soll nicht mehr für die Schoa stehen, heißt es dann, sondern für die Verurteilung von Gewalt an sich. Gewalt an sich – diese merkwürdige metaphysische Entität, die immer schlimm ist, aber nie einen klaren Täter kennt, außer in der Vergangenheit. Der Universalismus funktioniert hier wie ein moralischer Fleischwolf: Er nimmt das Konkrete, das Unbequeme, das historisch Einmalige und macht daraus eine formbare Masse aus guten Absichten. Übrig bleibt ein Symbol, das überall passt und niemandem wirklich weh tut – außer vielleicht denen, deren Geschichte gerade entsorgt wurde.

Dass ausgerechnet jüdische Stimmen protestieren und dann als Spielverderber erscheinen, ist Teil des bekannten Drehbuchs. Der Antisemitismusbeauftragte, die Deutsch-Israelische Gesellschaft – das sind in dieser Erzählung die humorlosen Bürokraten der Erinnerung, die der Kunst ihre Flügel stutzen wollen. Dabei tun sie nichts anderes, als auf eine Grenze hinzuweisen: auf die Grenze zwischen Erinnerung und Missbrauch. Doch Grenzen sind in einer Zeit des moralischen Exhibitionismus unerquicklich. Sie stören das wohlige Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.

Die bequeme Radikalität der Nachgeborenen

Es ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Nachgeborene sich heute der moralischen Autorität der Schoa bedienen, um aktuelle politische Positionen zu legitimieren. Man leiht sich das absolute Böse der Vergangenheit, um das relative Böse der Gegenwart maximal zu verurteilen. Das hat etwas zutiefst Anmaßendes. Denn es verschiebt die Perspektive: Nicht mehr die Juden sind die Subjekte der Erinnerung, sondern das erinnernde Kollektiv selbst. Man erinnert nicht um der Opfer willen, sondern um sich selbst als moralisch wach zu erleben. Die Erinnerung wird zur Bühne, auf der man seine Haltung performt.

Anne Frank mit Kufiya ist dafür ein perfektes Bild. Es sagt: Seht her, wir haben gelernt. Wir erkennen Unterdrückung überall. Wir sind so sensibilisiert, dass wir sogar das bekannteste jüdische Opfer des Nationalsozialismus gegen den jüdischen Staat in Stellung bringen können. Das ist keine Empathie, das ist moralischer Narzissmus. Und er funktioniert nur, solange die dargestellte Person tot ist. Eine lebende Anne Frank hätte womöglich widersprochen. Sie hätte Fragen gestellt. Vielleicht hätte sie sogar etwas gesagt, das nicht ins Konzept passt. Das wäre unerquicklich gewesen.

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Der Antisemitismus der guten Absicht

Nichts ist so schwer zu kritisieren wie der Antisemitismus der guten Absicht. Er kommt ohne Hassparolen aus, ohne Karikaturen, ohne offenen Vernichtungswunsch. Er tritt im Gewand der Menschlichkeit auf, der Kunst, der universellen Moral. Und gerade deshalb ist er so wirksam. Denn wer ihm widerspricht, muss sich erst einmal aus der Ecke der Unmoral herausarbeiten. Man ist ja gegen Gewalt, oder nicht? Gegen Unterdrückung? Für Menschenrechte? Dass diese Begriffe selektiv angewendet werden, dass sie vor allem dann laut werden, wenn es um Israel geht, soll bitte niemand thematisieren. Das würde die schöne Erzählung ruinieren.

Anne Frank wird in diesem Kontext nicht geliebt, sondern benutzt. Geliebt wird die eigene Haltung, die eigene Betroffenheit, die eigene vermeintliche Radikalität. Die tote Jüdin ist Mittel zum Zweck. Und so schließt sich der Kreis zu Dara Horns bitterem Befund: Man liebt tote Juden, weil sie nichts kosten. Sie fordern keine Konsequenzen. Sie verlangen nicht, dass man Antisemitismus im eigenen politischen Lager erkennt. Sie stören nicht die Solidarität mit denen, die sich selbst gern als die neuen Opfer der Geschichte inszenieren.

Schluss ohne Erlösung

Am Ende bleibt ein schaler Geschmack. Nicht wegen eines einzelnen Bildes in einem Potsdamer Museum, sondern wegen des Musters, das es offenlegt. Die Erinnerung an die Schoa wird nicht mehr geleugnet, sie wird recycelt. Sie wird in neue Kontexte eingespeist, bis sie ihre ursprüngliche Bedeutung verliert. Anne Frank wird dabei nicht geehrt, sondern entkernt. Aus einem jüdischen Mädchen, das von Deutschen ermordet wurde, wird eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels. Das ist keine Aufarbeitung, das ist Umdeutung. Und sie sagt am Ende mehr über diejenigen aus, die sie betreiben, als über Anne Frank selbst.

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