
Es ist still geworden in der Halle. Nur noch das Flimmern des Notausgangslichts erinnert an die Zeit, als hier Maschinen standen, die mehr konnten als Kaffee kochen oder sich mit dem Internet der Dinge über ihre midlife crisis austauschen. Die große Drehbank Europas, einst donnerndes Symbol technischer Machermacht, rostet heute unter einem Schild mit der Aufschrift: „Gefördert durch die EU – Nachhaltigkeit in der Produktion 2030“. Und da ist es wieder, dieses magische Wort: Nachhaltigkeit. Wie ein Mantra murmelt es sich Europa seit Jahren selbst zu, während China fröhlich die Lithiumminen des globalen Südens plündert und die USA zwischen Silicon Valley und Texas ihre industrielle Wiederauferstehung feiern. Europa aber? Europa recycelt.
Der eigentliche Witz – und wir lachen hier nicht ohne bittere Tränen –, ist der, dass man sich auf diesem Kontinent nun damit tröstet, moralisch zu gewinnen, wenn man wirtschaftlich schon längst verloren hat. Der Lohn des Gerechten ist eben kein Reallohn. Und CO₂-Neutralität gibt’s nicht im Bruttoinlandsprodukt.
Bürokratie statt Batterie: Die Regulierung frisst die Innovation
Was in China ein Projekt ist, ist in Europa ein Paragraf. Was dort ein Testlauf ist, ist hier ein Verwaltungsverfahren. Wo dort Halbleiterfabriken in sechs Monaten gebaut werden, reichen bei uns sechs Jahre für den Beschluss, eventuell über einen Planungsentwurf nachzudenken, der unter besonderer Berücksichtigung von Rotmilan, Krötenschutz und regionaler Wurstvielfalt ein paar Nanometer-Technologie ermöglichen könnte – sofern die Beteiligungsverfahren abgeschlossen und die Klagen der Bürgerinitiativen beigelegt sind.
Die europäische Industrie, dieses einstige Biest aus Stahl, Strom und Stolz, vegetiert heute unter der Knute einer bürokratischen Priesterschaft dahin, deren Evangelium aus Verordnungen, Richtlinien und strategischen Papieren besteht, die alles sein wollen, nur nicht effizient. Es ist ein bisschen so, als würde man einem Ertrinkenden einen Lehrgang in Wasserqualität anbieten, aber das Rettungsboot wegen Lieferkettenproblemen nicht aus dem Lager holen.
Die Geister, die wir frachten: Handelsbilanz und andere Märchen
„Wir exportieren Werte“, sagt der europäische Politiker mit glänzendem Blick. Doch in den Bilanzen stehen keine Werte, sondern Waren. Während China Batterien, Chips und Schiffe verkauft und die USA mit KI, Frackinggas und Waffen glänzen, exportiert Europa seine Schulden, seine Diplomatie und seine Gutgläubigkeit. Man verkauft noch immer Autos, ja, aber unter Auflagen, mit Emissionsnachweisen, in digitalisierten Formaten, die nur noch auf Servern in Irland existieren. Und währenddessen importiert man Solarpanele, Windräder und Rohstoffe – samt der Abhängigkeit, die sie mitliefern.
Die Realität ist eine kalte Excel-Tabelle, und da steht unter dem Strich: Europa schrumpft. Nicht als Ort, nicht als Idee, sondern als industrielle Kraft. Ein Kontinent, der einst die Dampfmaschine erfand, hängt heute am Tropf chinesischer Lithiumversorgung und amerikanischer Cloud-Infrastruktur. Und die EU-Kommission träumt von digitaler Souveränität, während sie sich mit Chatbots und Datenschutz-Grundverordnungen beschäftigt. Orwell hätte seine Freude daran.
Von der Hochofen- zur Hochmoralgesellschaft
Wir sind besser geworden. Nicht im technischen, aber im ethischen Sinne. Wir sind klimabewusst, divers, inklusiv, gendergerecht und fair. Wir reden über die Zukunft der Arbeit, ohne zu merken, dass die Arbeit uns verlässt. Wir philosophieren über Lieferkettengesetze, während wir zuschauen, wie unsere Lieferketten in andere Hemisphären umziehen. Der deutsche Mittelstand, das Rückgrat Europas, kämpft derweil mit Fachkräftemangel, Strompreisen und der Frage, wie man ein Unternehmen führen soll, wenn einem Brüssel jeden Monat einen neuen Compliance-Kalender zuschickt.
Europa ist moralisch intakt – das ist keine Ironie, das ist der Wahnsinn. Denn wer glaubt, die Welt funktioniere nach den Regeln des EU-Parlaments, der sollte mal versuchen, in Nigeria eine Turbine zu verkaufen oder in Vietnam eine Batterie zu produzieren. Der neue Kapitalismus kennt kein Mitgefühl. Und die Großmächte spielen Schach, während Europa Sudoku löst – mit ethischem Anspruch, versteht sich.
Der schleichende Selbstmord des Kontinents
Die Zahlen lügen nicht: 1990 war Europa für 25 % der Weltwirtschaft verantwortlich. Heute sind es 17 %. China war damals bei 3 %, heute ebenfalls bei 17 %. Das nennt man Umverteilung – nicht von Reichtum, sondern von Bedeutung. Und was tut Europa? Es streitet über Quoten, formuliert Visionen, gründet Ethikräte. Man hat sich auf der Titanic in den Ethikbeirat wählen lassen und hofft, dass der Eisberg ESG-konform ist.
In Wahrheit, und das ist die härteste Pointe, glaubt Europa immer noch, es sei Vorbild. Dabei ist es längst zum musealen Exponat geworden: Ein Kontinent mit großartigen Erinnerungen, exzellenten Museen und einem beeindruckenden Archiv an Weltgeltung. Was fehlt, ist Gegenwart. Was fehlt, ist industrielle Substanz. Was bleibt, ist das Gefühl, dass man alles richtig gemacht hat – und trotzdem bald nichts mehr produziert.
Vielleicht ist das die Pointe: Wir wollten nicht gewinnen
Europa hat den Krieg der Ideen geführt – und ihn gewonnen. Demokratische Standards, soziale Sicherungssysteme, eine der besten Zivilgesellschaften der Welt. Doch in der Weltwirtschaft zählt das nicht. Dort zählen Masse, Geschwindigkeit, Effizienz – und, ja: Macht. Und Macht wird nicht durch Konsultationsprozesse hergestellt, sondern durch Entscheidungen.
Vielleicht ist das unser eigentlicher Fehler: Wir wollten nicht mehr gewinnen, sondern nur noch überzeugen. Wir wollten nicht herrschen, sondern vorleben. Doch Vorbilder werden selten nachgeahmt – sie werden bestaunt, dann überholt, und irgendwann vergessen.
Ein letzter Witz
Und während der letzte europäische Industrielle das Licht in seiner Fabrik löscht und draußen ein Elektrobus vorbeifährt – Made in China, powered by Afrika, kontrolliert via Amazon Web Services –, seufzt er leise:
„Aber wenigstens war unsere CO₂-Bilanz tadellos.“
Und so endet die Geschichte Europas nicht mit einem Knall, sondern mit einem moralischen Zertifikat.