
Es ist eine erstaunliche Disziplin, die die westliche Wertegemeinschaft seit Jahrzehnten perfektioniert hat: die selektive Empörung. Wenn Russland die Krim annektiert, Donbas-Söldner finanziert oder sich sonst wie völkerrechtswidrig gebärdet, dann fackeln EU, NATO und Co. nicht lange: Sanktionen! Boykotte! Gipfel der Besorgnis! Gipfel über den Gipfel! Gipfelbesprechungen zum Gipfel der Gipfel! Alles, was das diplomatische Waffenarsenal hergibt, wird aufgefahren.
Doch wenn es um den Dauerbrenner im Mittelmeer geht, die Teilung Zyperns seit 1974, dann herrscht bemerkenswerte Funkstille. Keine Magnitsky-Listen für türkische Generäle. Keine eingefrorenen Vermögen von Erdogan-Vertrauten. Keine Öl- und Gasembargos. Ja nicht einmal ein symbolisches Sanktions-Klingelstreichen vor der türkischen Botschaft!
Die Tatsache, dass ein NATO-Mitglied seit über fünf Jahrzehnten einen Teil eines EU-Mitgliedstaates besetzt hält scheint den Hütern des freien Westens ungefähr so viele Sorgenfalten zu verursachen wie ein Knopf, der in der Waschmaschine verloren gegangen ist.
Operation Atilla – Der vergessene Krieg
Der 20. Juli 1974 – ein Datum, das im kollektiven Gedächtnis der Weltöffentlichkeit offenbar mit Bleistift auf Butterbrotpapier geschrieben wurde. Damals startete die Türkei ihre sogenannte Operation Atilla (ja, benannt nach dem Hunnenkönig – subtil war gestern). Unter dem Vorwand, die türkische Minderheit vor den griechisch-zypriotischen Putschisten zu schützen, marschierte die türkische Armee ein und nahm mal eben ein Drittel der Insel in Besitz. Rund 200.000 Menschen wurden vertrieben, ihre Häuser geplündert, ihre Olivenhaine annektiert, ihre Zypressen umgesägt – und das Völkerrecht? Das saß derweil wohl irgendwo in Brüssel bei einem Aperol Spritz und wartete darauf, wieder ernst genommen zu werden.
Die UN verurteilte den Einmarsch damals. Mehrmals. Mit Resolutionen. Das war’s dann aber auch. Eine Resolution ist wie ein Therapievorschlag für einen Brandstifter: höflich gemeint, aber am Ende brennt es trotzdem weiter.
Die zwei Gesichter der Weltordnung
Es ist schon bemerkenswert, wie flexibel der Begriff “völkerrechtswidrig” ausgelegt werden kann, wenn man ihn nur oft genug dehnt. Die Krim ist “inakzeptabel”, der Donbas “ein Skandal”, Gaza ein “humanitärer Alptraum” – aber Zypern? Ach, das ist doch diese Ferieninsel mit den guten Meze-Tellern und den freundlichen Hotelrezeptionisten, nicht wahr?
Wenn der türkische Präsident Erdogan anlässlich des 51. Jahrestages der Invasion verkündet, die Welt solle sich gefälligst mit der Zweistaatenlösung abfinden, dann wirkt das ungefähr so grotesk, als würde Wladimir Putin in Sewastopol einen Tost auf die “unverrückbaren Realitäten” anstoßen und den Westen auffordern, sich mit der Krim-Annexion endlich zu arrangieren.
Nur dass Putin dafür sanktioniert wird – und Erdogan? Der bekommt EU-Gelder für Flüchtlingslager und neue Panzermodelle mit deutsch-türkischer Kooperation.
Ein Lehrstück in Doppelmoral: Der Zypern-Case-Study-Workshop
Lassen Sie uns, werte Leserinnen und Leser, einmal für einen Moment naiv sein – nur der Übung halber. Stellen wir uns vor, Russland hätte 1974 ein Drittel Finnlands besetzt. Oder China einen Teil Japans. Oder der Iran den halben Oman. Glauben Sie, es gäbe dann 51 Jahre später noch Verhandlungen über die “Anerkennung der neuen Realitäten”? Oder hätten wir es mit Embargo-Monumenten und Wirtschaftssanktionen von biblischen Ausmaßen zu tun?
In Zypern hingegen übt sich der Westen im diplomatischen Yoga: Man verbiegt sich in alle Richtungen, um ja nicht allzu genau hinzuschauen. Die Besatzung Nordzyperns ist gewissermaßen das diplomatische Äquivalent zum unangenehmen Verwandten, der seit Jahrzehnten auf der Couch liegt, aber keiner traut sich, ihn rauszuwerfen.
Erdogan der Ewig-Besetzer – mit freundlichen Grüßen aus Ankara
Dass Erdogan inzwischen selbstbewusst wie ein Platzhirsch die Zweistaatenlösung fordert, ist da nur konsequent. Wer jahrzehntelang ungestört Fakten schaffen darf, der kann irgendwann auch verlangen, dass die Welt diese Fakten bitteschön als “gegeben” akzeptiert.
Und warum auch nicht? Die türkische Republik Nordzypern wird zwar bis heute nur von der Türkei anerkannt, aber was heißt das schon, wenn der Rest der Welt so tut, als wäre der Zustand eben “kompliziert” und “schwierig”?
“Kompliziert” ist übrigens das Lieblingswort der internationalen Gemeinschaft, wenn sie meint: Wir möchten da nicht hinsehen, sonst müssten wir ja handeln.
Der ewige Frieden der Doppelmoral
Was bleibt also nach 51 Jahren türkischer Besatzung in Nordzypern? Ein politisches Vakuum, in das bequem der Zynismus einziehen kann. Erdogan darf weiterhin vom “Schutz der türkischen Zyprioten” sprechen, während er sich die besten Grundstücke am Strand sichert. Die EU darf weiterhin so tun, als sei die Lage “festgefahren”, während deutsche Rüstungsfirmen mit Ankara Deals machen. Und der Rest der Welt? Der sonnt sich am Ayia-Napa-Strand auf der Südseite der Insel und bestellt noch einen Cocktail.
Vielleicht ist das ja die wahre Zweistaatenlösung: Auf der einen Seite der Insel die völkerrechtliche Empörung, auf der anderen Seite die diplomatische Amnesie.
Willkommen im Donbasz des Mittelmeers. Prost.