Leben wir in einer Gierflation? Schon das Wort klingt, als habe es sich heimlich an der Kasse der öffentlichen Debatte vorgedrängelt, zwischen „Zeitenwende“ und „Polykrise“, mit hochgezogenen Schultern und dem unschuldigen Blick eines Begriffs, der behauptet, nur beschreiben zu wollen, was doch alle längst fühlen. Und tatsächlich: Die Preise steigen, die Augenbrauen ebenfalls, und irgendwo dazwischen wächst der Verdacht, dass hier nicht allein anonyme Kräfte, sondern sehr konkrete Begehrlichkeiten am Werk sind. Gierflation – das ist mehr als ein ökonomischer Befund; es ist eine moralische Diagnose, eine Anklage mit Konjunktiv, ein Fingerzeig, der sich nicht entscheiden kann, ob er auf „die Märkte“, „die Konzerne“ oder am Ende doch auf uns selbst gerichtet ist. Die Frage ist also nicht nur, ob wir in einer Gierflation leben, sondern auch, wer hier eigentlich wen der Gier bezichtigt, während er selbst noch den letzten Sonderangebot-Joghurt in den Einkaufswagen hievt.
Die unsichtbare Hand mit sehr sichtbaren Fingern
Offiziell, so lernen wir seit Adam Smith und seinen zahlreichen PR-Abteilungen, reguliert sich der Markt selbst. Die berühmte unsichtbare Hand, die alles zum Guten wendet, sofern man sie nur ungestört arbeiten lässt, hat allerdings in den letzten Jahren auffällig an Muskelmasse zugelegt. Sie greift fester zu, sie hält länger fest, und vor allem lässt sie nur ungern wieder los. Preise steigen nicht mehr nur, weil Energie teurer wird, Lieferketten husten oder ein Krieg irgendwo die Weltordnung neu sortiert, sondern weil man festgestellt hat, dass sie steigen können. Ein kleiner, beinahe rührender Moment der Erkenntnis: Ach, die Kundschaft zahlt ja trotzdem. Und warum sollte man, wenn man schon einmal im Aufzug nach oben sitzt, nicht noch ein paar Etagen extra drücken? Gierflation bezeichnet genau diesen Augenblick, in dem aus Notwendigkeit Opportunismus wird, aus Vorsicht Gewinnmaximierung und aus ökonomischer Rationalität eine Art gesellschaftlich akzeptierter Raubzug mit Excel-Tabelle.
Das große Achselzucken der Verantwortlichen
Natürlich will es niemand gewesen sein. Die Unternehmen verweisen auf gestiegene Kosten, die Politik auf globale Zwänge, die Ökonomen auf komplexe Modelle, die leider gerade nicht griffbereit sind, und alle gemeinsam aufeinander. Verantwortung diffundiert, je größer die Gewinne werden, und löst sich schließlich vollständig auf, wie ein Stück Zucker im heißen Kaffee der öffentlichen Empörung. Gier, so scheint es, ist immer dort, wo man selbst gerade nicht steht. Sie wohnt in Vorstandsetagen, in anonymen Fonds, in „den Märkten“, niemals aber im eigenen Konsumverhalten, das man selbstredend nur als „notwendig“ und „wohlverdient“ begreift. Die Gierflation ist deshalb auch ein rhetorisches Kunststück: Sie erlaubt es, Empörung zu empfinden, ohne allzu genau hinzusehen, und moralisch aufzutrumpfen, ohne sich selbst aus dem Spiel zu nehmen.
Konsumenten als Opfer mit Kreditkarte
Denn während wir empört über Preisexplosionen klagen, greifen wir weiterhin zu, klicken weiter, bestellen noch schnell vor Mitternacht, um den kostenlosen Versand mitzunehmen, und trösten uns mit dem Gedanken, dass man sich ja auch irgendetwas gönnen müsse in diesen schweren Zeiten. Der moderne Konsument ist ein paradoxes Wesen: Er fühlt sich ausgebeutet und souverän zugleich, manipuliert und entscheidungsfrei, arm und anspruchsvoll. Gierflation funktioniert nur, weil sie auf ein Publikum trifft, das tief in sich selbst einen kleinen, aber hartnäckigen Wunsch nach immer mehr, immer schneller, immer bequemer hegt – und diesen Wunsch nur ungern als das bezeichnet, was er ist. Die Preisschilder mögen frech geworden sein, aber sie sprechen auch eine Sprache, die wir allzu gut verstehen.
Moralische Empörung als gesellschaftliches Schmiermittel
Die Debatte um die Gierflation erfüllt dabei eine wichtige soziale Funktion: Sie kanalisiert Frust. Sie erlaubt es, komplexe Zusammenhänge auf ein handliches Feindbild zu reduzieren, das sich gut empören lässt und noch besser teilen. Wer von Gierflation spricht, positioniert sich automatisch auf der Seite der Anständigen, der Vernünftigen, derer, die „das Spiel durchschauen“. Dass man selbst Teil dieses Spiels ist, wird dabei elegant ausgeblendet, wie der eigene Schatten an einem sehr sonnigen Tag. Die Empörung wird zur Währung, mit der man sich moralische Überlegenheit erkauft, während im Hintergrund die Preise weiter steigen – vielleicht sogar ein wenig beschleunigt durch die kostenlose Aufmerksamkeit, die jede Skandalisierung mit sich bringt.
Leben wir also in einer Gierflation?
Vielleicht ist die ehrlichste Antwort eine unbefriedigende: Ja. Aber nicht nur. Wir leben in einer Zeit, in der reale Knappheiten, geopolitische Verwerfungen und strukturelle Probleme auf eine Kultur treffen, die gelernt hat, jede Gelegenheit zur Gewinnsteigerung auszureizen – und auf Konsumenten, die gelernt haben, sich darüber zu beklagen, ohne ihr Verhalten ernsthaft zu ändern. Die Gierflation ist weniger ein klar umrissener Zustand als ein Spiegel, in dem wir eine verzerrte, aber durchaus erkennbare Version unserer selbst betrachten. Man kann diesen Spiegel zerschlagen, man kann ihn anklagen, man kann ihn satirisch kommentieren – doch das Bild dahinter verschwindet nicht. Es grinst uns weiter an, augenzwinkernd, ein wenig zynisch, und fragt leise zurück: Und du?
Wie viel davon bist eigentlich du?