
Motto:
„Ein Mensch, sagte er, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt.“
(Thomas Robert Malthus, sinngemäß – oder zumindest so interpretiert, wie es den Besitzstandswahrern gefällt)
Die Wiederkehr des Malthus – mit Beil und Bilanzen
Wenn ein Gedanke einmal in der Welt ist, lässt er sich nicht so einfach wieder ausladen. Schon gar nicht beim großen Gastmahl der Ideengeschichte. Und Thomas Malthus sitzt seit 1798 unverdrossen am Tisch, kaut auf seiner dürren Theorie herum und legt regelmäßig den Löffel nieder, nur um den anderen Gästen mit belegtem Mund zuzuflüstern, dass es jetzt aber wirklich zu viele geworden sind. Das Buffet sei leer, das Dessert aus, und der Hauptgang—naja, den hätten die oberen Zehntausend ohnehin längst unter der Serviette verschwinden lassen.
Die Frage ist also nicht, ob wir auf eine Malthusianische Katastrophe zusteuern, sondern ob wir ihr nicht längst mit offenen Armen entgegengelaufen sind, versehen mit Selfiestick, Discountflieger und Streaming-Abo. Das globale Menü ist angerichtet, der Planet auf Anschlag, der Kühlschrank summt noch leise, aber der Strompreis steigt. Und während sich einige den dritten Hummer gönnen, argumentieren sie in Talkshows über die Zumutung des Mindestlohns. „Wo soll das hinführen?“, fragt der Millionär mit Blick auf den Hartz-IV-Empfänger, der sich eine neue Jacke gekauft hat.
Malthus, der alte Pfarrer mit der düsteren Prognose, hat wieder Konjunktur. Der Club of Rome reicht ihm das Wasser, die Klimaforschung den Taschenrechner, und der Finanzkapitalismus das Messer, denn es wird schon mal an der Torte geschnitzt, bevor die Kerzen ausgeblasen sind.
Der Planet platzt – aber nur unten
Die Überbevölkerungsfrage ist die Lieblingsausrede der Besitzenden, wenn sie mal wieder erklären müssen, warum der Reichtum der Wenigen unantastbar bleibt. Natürlich, es sind „zu viele Menschen“—aber doch bitte immer die falschen. Nie ist der Jetset zu viel. Nie der Villenbesitzer mit dem SUV-Fuhrpark. Zu viel ist immer der hungernde Bauer in Bangladesch, der Fischer ohne Fangquote, die Mutter mit fünf Kindern in Lagos.
Denn seltsamerweise ist es nie das ressourcenfressende Leben der Reichen, das zum Problem erklärt wird. Es ist das bloße Vorhandensein der Armen. Als wäre ihre Existenz schon eine Art Vergehen an der Ökobilanz.
Dabei zeigt jede Bilanz nüchtern: Das reichste Prozent verursacht den größten CO₂-Fußabdruck. Die ärmsten fünfzig Prozent könnten aufhören zu atmen, und es würde das Klima kaum jucken. Und trotzdem wird in den Foren der Besserverdienenden wieder eifrig über „Bevölkerungskontrolle“ sinniert, am besten in Afrika, Asien oder sonstigen entlegenen Orten, die man eh nur aus der Drohnenperspektive kennt.
„Zu viel“ – eine Frage der Perspektive
Das Problem ist nicht die Anzahl der Menschen, sondern wer wo wie viel bekommt. Es ist ein mathematisches Wunder, dass acht Milliarden Menschen auf einem Planeten leben, der theoretisch locker alle ernähren könnte. Wären da nicht die Logistik der Gier und das Management des Mangels, sorgfältig betrieben von den Hütern der Marktlogik.
Aber es klingt natürlich eleganter, über „natürliche Grenzen des Wachstums“ zu reden, als über Hedgefonds, die auf Weizenpreise wetten. Lieber spricht man von ökologischer Tragfähigkeit als von steuerlicher Umverteilung. Und so erzählt man sich gegenseitig in den gläsernen Bürotürmen von Frankfurt, New York und Dubai, dass die Armen leider die Erde ruinieren, weil sie zu viele Kinder kriegen. Dass man selbst in der Business Class sitzt, wird diskret verschwiegen.
Der große Hunger – eine geplante Knappheit
Der Hunger dieser Welt ist nicht das Ergebnis der Überbevölkerung, sondern der Überverteilung nach oben. Jedes Jahr landen Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, während anderswo Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen sterben. Nicht, weil es keine Nahrung gäbe, sondern weil die Profite besser sind, wenn man sie an die Falschen verkauft.
Die Wirtschaft nennt das „Effizienz“. Die Politik nennt es „Sachzwang“. Und Malthus lächelt dazu dünn und sagt: „Seht ihr, ich hab’s doch gesagt.“ Nur hat er eben nie von Subventionen für Agrarkonzerne gesprochen, sondern von göttlicher Ordnung. Dass die heutige Hungerökonomie von Banken gesteuert wird, war damals noch nicht auf dem Schirm.
Gerechtigkeit – das unbesetzte Gedeck
Vielleicht sollten wir also weniger darüber reden, wie viele Menschen auf der Welt leben, sondern wie viele von ihnen absichtlich übergangen werden. Das große Gastmahl der Natur hat sehr wohl genug Plätze. Es gibt genug Brot, genug Wasser, genug Ressourcen. Nur leider stehen die Tische in den falschen Sälen, bewacht von Lobbyisten mit goldenen Krawatten und politischen Türstehern, die den Zugang regeln.
Wer eintritt, muss entweder das Eintrittsgeld zahlen oder wird als „Leistungsträger“ durchgewinkt. Der Rest steht draußen in der Kälte und darf den Duft des Bratens inhalieren. Nachhaltig, versteht sich.
Der planetare Schlussakkord
Sind wir also auf dem Weg in die Malthusianische Katastrophe?
Vielleicht.
Aber wenn ja, dann nicht, weil die Natur das so will, sondern weil wir sie mit den falschen Rechnungen gefüttert haben.
Die Katastrophe kommt nicht, weil es zu viele Esser gibt, sondern weil einige den Tisch schon leergeräumt haben, bevor der Hauptgang überhaupt serviert war. Und nun sitzen sie da, rülpsen leise ins Einstecktuch und sagen den anderen: „Tut mir leid, das Buffet ist geschlossen. Es war einfach zu viel los.“
Vielleicht sollten wir also aufhören, über die Überbevölkerung zu lamentieren, und endlich die Verteilungsgerechtigkeit auf den Tisch bringen. Das wäre zumindest ein Gespräch, das sich lohnt.
Und wer weiß? Vielleicht würde dann auch Malthus endlich mal satt.