
Die große Karawane der Verantwortungslosigkeit
Afghanistan – jenes unverwüstliche Stück Weltkarte, das es trotz aller gutgemeinten Bemühungen des Westens noch immer gibt. Ein Land, das sich tapfer weigert, im Orkus der Weltgeschichte zu verschwinden. Schon 1950, in jenen goldenen Jahren, als Europa mit Trümmerfrauen und Moralvorstellungen experimentierte, hatten die Afghanen gerade einmal 7,7 Millionen Einwohner – eine überschaubare Zahl für ein unüberschaubares Land. 2015 dann 33,7 Millionen. Und für das Jahr 2050 prognostizieren die Demographen kühl ihre Zahlen in den Computer: 61 Millionen. Fast eine Verzehnfachung innerhalb eines Jahrhunderts.
Das ist bemerkenswert. Besonders, wenn man bedenkt, dass Afghanistan eigentlich die perfekte Blaupause für Bevölkerungsrückgang sein müsste: jahrzehntelanger Krieg, marode Infrastruktur, Bildungssystem auf Talfahrt, medizinische Versorgung optional und ohnehin meist tödlich. Aber nein – die Menschen vermehren sich trotzdem, vielleicht gerade deshalb. Wo der Tod regiert, scheint das Leben zur Protestbewegung zu werden. Es ist, als würde jeder afghanische Vater seinem Sohn zuflüstern: „Sie werden uns bombardieren, mein Junge – also schnell, zeugen wir noch drei Brüder!“
Die Völkerwanderung 2.0 – diesmal ohne Pferde, dafür mit EU-Asylrecht
Und weil es in Afghanistan ungemütlich ist, macht man sich auf den Weg. Sechs bis neun Länder sind kein Hindernis, sondern ein Abenteuer. Für uns vielleicht der Jakobsweg mit Trekkingrucksack und spiritueller Selbsterfahrung, für afghanische Jugendliche das Ticket in die europäische Unendlichkeit. Wer einmal den Hindukusch verlassen hat und es irgendwie über Iran, Türkei, Balkanroute und diverse europäische Abschiebestopps geschafft hat, ist praktisch durch. Endgegner Deutschland: besiegt.
Zurück? In ein Land, das im „Fragile States Index“ zuverlässig den letzten Platz anpeilt? Wohl kaum. Selbst die Taliban fragen sich inzwischen, ob sie das wirklich verdient haben – immer diese Rückführungen. Der Westen ruft laut „Wir müssen helfen!“, liefert aber bevorzugt die Hilfsbedürftigen direkt aus dem Flieger ins Sozialsystem.
Ein genialer Trick der postmodernen Weltordnung: Erst destabilisiert man Länder durch Krieg, Waffenexporte und neokoloniale Geopolitik, dann importiert man die Menschen, denen man das Zuhause kaputt gemacht hat. Doppelt hält besser.
Ressourcen sind endlich – Zynismus nicht
Das Problem ist nur: Auch der Wohlstand ist endlich. Selbst Deutschland, diese hypermoralische Rettungsinsel mit Sozialstaat auf Pump, kann nicht unendlich Menschen aufnehmen, die aus verzweifelten Systemen fliehen. Irgendwann platzt auch die großzügigste Willkommenskultur aus den Nähten. Aber darüber redet man hierzulande lieber nicht. Wer es doch tut, gilt als Unmensch, Rechtspopulist oder mindestens als jemand, der das Schlechte im Menschen sieht – und das auch noch ausspricht. Igitt.
Dabei wäre die Frage eigentlich logisch: Was tun, wenn sich die Bevölkerung Afghanistans von 7 auf 61 Millionen steigert, während der Lebensraum und die Ressourcen gleich bleiben – oder schlimmer noch, schrumpfen? Na klar: Man exportiert das Problem. Globale Arbeitsteilung in der postfaktischen Ära.
Es ist ein bisschen so, als würde man eine brennende Matratze aus dem Fenster werfen, um das eigene Schlafzimmer zu retten, und dann den Nachbarn auffordern, sie doch bitte nicht anzuzünden, sondern nachhaltig zu entsorgen.
Realpolitik trifft auf Betroffenheitslyrik
Natürlich hat jeder, der es durch den Hindukusch, die Ägäis und diverse Grenzzäune geschafft hat, Schlimmes erlebt. Das ist gar keine Frage. Und selbstverständlich will niemand zurück in ein Land, das von Kriegsfürsten, religiösen Fanatikern und Hunger regiert wird. Das ist menschlich. Aber was, wenn das System der Aufnahme irgendwann implodiert?
Die europäischen Staaten haben sich da in eine Mischung aus moralischem Selbsterlösungswahn und geopolitischem Realitätsverlust verrannt. Man rettet, was zu retten ist – sich selbst, das eigene Selbstbild, den globalen Süden. Am Ende bleibt meist nur der große Satz: „Wir schaffen das.“ Nur fragt keiner: Was genau schaffen wir da eigentlich?
Und wenn man vorsichtig andeutet, dass es vielleicht irgendwann eine Grenze des Schaffbaren gibt, kommt der große moralische Zeigefinger: „Aber wir sind doch ein reiches Land!“ Ja, schon. Nur leider sind wir auch ein immer älteres Land mit immer weniger jungen Menschen, die arbeiten, und immer mehr Menschen, die versorgt werden wollen. Eine klassische Lose-Lose-Situation, die wir mit der Leidenschaft eines pathologischen Spielsüchtigen ignorieren.
Der Elefant im Raum trägt einen Turban
Vielleicht braucht es neue Ideen. Irgendwas Kreatives, Frisches. Könnte man nicht mal aufhören, nur Symptome zu verwalten? Vielleicht – verrückter Gedanke – wäre es sinnvoll, den Blick auf die Ursachen zu lenken: Warum explodiert die Bevölkerung in Ländern, die nichts zum Leben bieten? Warum werden dort mehr Kinder geboren, als der Planet erträgt? Und warum reagiert der Westen darauf, als wäre es ein Naturgesetz wie die Gravitation?
Stattdessen verwalten wir den Kollaps wie ein schlecht gelaunter Hausmeister die kaputte Heizung: Man dreht an ein paar Knöpfen, schimpft über die Technik und hofft auf den Frühling.
Aber der Frühling wird nicht kommen. Stattdessen werden Millionen weiterer Afghanen, Syrer, Somalier, Sudanesen und all die anderen aus den „failed states“ dieser Welt irgendwann an Europas Tür klopfen. Sie werden sagen: „Wir sind jetzt hier.“ Und Europa wird antworten: „Das haben wir kommen sehen – und trotzdem nichts getan.“
Vielleicht sollte man sich wirklich „etwas einfallen lassen“, wie Sie so schön sagen. Sonst wird’s tatsächlich „unrund“. Oder – um es mit dem Sarkasmus der Gegenwart zu sagen:
Willkommen in der postmoralischen Sackgasse. Ausgang leider versperrt.