Es ist schon beinahe poetisch, dass die ukrainische Antikorruptionsbehörde ihre jüngste Enthüllung „Operation Midas“ taufte. Midas, der König, der alles, was er berührte, in Gold verwandelte – und am Ende an seiner eigenen Gier erstickte. Nur dass in Kiew keine antike Tragödie geschrieben wird, sondern ein sehr modernes Stück über die Unfähigkeit, sich selbst zu entzaubern. Im Zentrum: Tymur Minditsch, jener diskrete Nachbar des Präsidenten, der im selben Haus wohnte, wo man einst auf dem Balkon vom „Diener des Volkes“ träumte, bevor aus dem Diener ein Präsident wurde – und aus dem Traum ein Verwaltungsakt.
Die Ironie der Geschichte hat hier einen festen Wohnsitz: Eine goldene Toilette in Minditschs Wohnung. Welch eleganter Symbolismus! Als hätte die Wirklichkeit beschlossen, das Feuilleton zu parodieren. Es ist, als schriebe Kafka plötzlich Boulevard – und seine Hauptfigur stünde mit heruntergelassenen Hosen vor der Staatsräson.
Der Duft der Macht – oder: Wenn der Energieminister nach Geld riecht
Herman Haluschtschenko, Justiz- und ehemaliger Energieminister, gilt als tragische Figur in diesem Theaterstück – nicht, weil er unschuldig wäre, sondern weil er die klassische Pose des Unwissenden so schlecht beherrscht. Laut NABU wurden unter seiner Ägide Verträge im Wert von Hunderten Millionen Euro so lange „veredelt“, bis sie die rechte Farbe hatten – nämlich die des Reichtums. Lieferanten zahlten Bestechungsgelder zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Ein bescheidener Satz, könnte man meinen, angesichts dessen, dass der Energiesektor im Krieg ohnehin mit Prozenten jongliert, nur meist handelt es sich da um Verluste, nicht Gewinne.
Dass die Schmiergelder ausgerechnet beim Bau von Schutzräumen für Transformatoren flossen – also für Anlagen, die russische Drohnen hätten abwehren sollen –, ist eine Perversion, die selbst den Zynismus der Geschichte übertrifft. Der Krieg tobt, Raketen fallen, Menschen frieren – und irgendwo in einem Büro in Kiew wird mit feuchtem Stift kalkuliert, wie man an der Zerstörung noch verdient. Der Mensch als Geschäftsmodell des Elends: In der Ukraine offenbar keine aussterbende Spezies.
Der Mann, der zu viel wusste – und noch rechtzeitig das Flugzeug nahm
Minditsch hat sich, wie es in solchen Fällen üblich ist, in Sicherheit gebracht. Israel soll es diesmal sein – das gelobte Land für jene, die ihren irdischen Reichtum vorübergehend ins Exil führen müssen. Dass er womöglich durch einen Staatsanwalt vorgewarnt wurde, fügt der Farce den finalen Pinselstrich hinzu. Die Korruptionsbekämpfer ermitteln, die Korruptionsbekämpften verschwinden, und irgendwo in einem Ministerium wird ein neues Formular entworfen, das künftig alles besser machen soll.
Man könnte sagen, die ukrainische Politik beweist hier ihren europäischen Fortschritt: Früher verschwand nur das Geld, heute verschwinden gleich die Verdächtigen mit. Fortschritt ist schließlich relativ.
Selenskyj – der Präsident im Sturmglas
Wolodymyr Selenskyj, dieser moderne Archetyp des tragikomischen Helden, steht nun im Auge des politischen Orkans. Während die Frontlinie blutet und Europa auf seine Standhaftigkeit schwört, bröckelt im Inneren die moralische Fassade. Und doch bleibt er erstaunlich unerschüttert – nicht aus Ignoranz, sondern aus Notwendigkeit. Seine Zustimmungswerte von 60 Prozent gleichen einer Lebensversicherung in Zeiten, da Legitimität mit dem Luftalarm gemessen wird.
Selenskyj begrüßt die Ermittlungen – was hätte er sonst tun können? Ihn in den Verdacht zu bringen, NABU zu bremsen, wäre ein politischer Selbstmord gewesen. Also verordnet er öffentliche Entrüstung, suspendiert Minister, ruft zu Rücktritten auf, und hofft, dass die Welt sieht: Hier herrscht kein Chaos, sondern die Demokratie in Reinform. Nur, dass diese Demokratie derzeit auf einem Schlachtfeld steht, zwischen Patriot-Raketen und Energierechnungen.
Die Moral – ein seltener Rohstoff
Es gibt in der Ukraine zwei Dinge, die derzeit knapp sind: Elektrizität und Glaubwürdigkeit. Ersteres lässt sich notdürftig mit Generatoren ersetzen, letzteres mit Pathos. Doch Pathos brennt schneller aus als Diesel. Der Skandal um Minditsch zeigt, wie dünn die Linie zwischen Patriotismus und Bereicherung geworden ist. Die Korruption hat im Land der Kriegshelden überlebt – nicht trotz, sondern wegen des Krieges. Denn wo Not herrscht, gedeiht die Ausrede: „Wir haben Wichtigeres zu tun.“
Aber vielleicht liegt darin die bittere Größe dieses Moments: Dass ein Land, das ums Überleben kämpft, dennoch den Mut findet, sich selbst zu hinterfragen. Dass NABU ermittelt, während Bomben fallen. Dass ein Präsident den Sumpf austrocknen will, obwohl der Boden unter ihm bebt. In einem absurden Sinn ist das heroischer als jede Frontrede.
Der Krieg frisst seine Kinder – aber er füttert seine Buchhalter
Man möchte lachen, wenn es nicht so zum Weinen wäre. Doch das Lachen bleibt das letzte Mittel der Erkenntnis. Wer in Kiew derzeit die Nachrichten liest, erkennt: Die wahre Tragödie ist nicht, dass es Korruption gibt – die gab es immer. Die Tragödie ist, dass sie sich so perfekt anpasst, wie ein Parasit an den Wirt. Der Krieg als Schutzschild, die nationale Einheit als Tarnkappe, die westliche Hilfe als Kapitalfluss. „Midas“ ist nicht nur ein Codename. Es ist ein Diagnosecode einer Zivilisation im Ausnahmezustand.
Vielleicht ist das die eigentliche Pointe: Die goldene Toilette steht nicht nur in Minditschs Wohnung. Sie steht sinnbildlich im Zentrum des politischen Systems – glänzend, verführerisch, leer. Und während draußen Sirenen heulen, spült man drinnen weiter, bis auch das letzte Gewissen im Abfluss verschwindet.
Epilog: Zwischen Bomben und Bonitätsprüfungen
Die Ukraine kämpft an zwei Fronten – eine gegen Russland, die andere gegen sich selbst. Und beide sind existenziell. Der Westen applaudiert dem Heldenmut, liefert Panzer, Stromaggregate, Appelle. Doch in den stillen Korridoren der Macht knirscht es. Die Moral, so scheint es, wird in Raten gezahlt, die Transparenz in Tranchen.
Und so bleibt die Frage: Wer wird am Ende siegen – der Patriot oder der Buchhalter? Vielleicht keiner. Vielleicht ist das wahre Ziel des ukrainischen Dramas nicht Sieg oder Niederlage, sondern das bloße Überleben – auch der Wahrheit. Denn wer in einem Land voller zerstörter Kraftwerke Licht sucht, sollte sich nicht wundern, wenn er nur die Reflexion einer goldenen Toilette findet.