Die diskrete Kunst der europäischen Selbstermächtigung

Es gibt Momente in der Geschichte der Europäischen Union, da man sich fragt, ob Brüssel nicht einfach ein besonders gut getarnter Escape Room ist: Man wird hineingelassen, bekommt ein paar Verträge, ein paar Prinzipien, ein bisschen „Wertegemeinschaft“ — und am Ende steht man wieder dort, wo irgendeine Kommission beschlossen hat, dass man gefälligst zu stehen habe. Dabei ist das Beeindruckende, wie unspektakulär das alles geschieht. Keine Helikopterlandeplätze, keine finsteren Tiefgaragen. Nur ein unscheinbares Bürogebäude in der Rue de la Loi, hinter dessen verspiegelten Fenstern sich neuerdings offenbar die Idee erhebt, Europa brauche eine Art kontinentale Einsatzzentrale gegen gefährliche Gedanken.

Sicher, der Begriff „Geheimdienst“ fällt dabei selten. Man spricht lieber von institutioneller Resilienz, demokratischer Hygiene oder anderen beruhigend klingenden Termen, die so flauschig daherkommen wie ein Gratis-Fleece-Plaid bei einer EU-Bürgerkonferenz. Aber wie jede gute Satire weiß: Je sanfter die Worte, desto härter die Absicht. Und die Absicht scheint darin zu bestehen, dass man in Brüssel weniger an Verträge als an Dehnbänder glaubt. Elastisch, universell einsetzbar, angenehm straff — und vor allem: unkaputtbar.

Das „Informationszentrum“ – ein Orakel in Technokratenrobe

Natürlich ist es kein Nachrichtendienst, sagt man. Um Himmels willen, wo kämen wir denn da hin. Es ist lediglich ein Zentrum, das Informationen sammelt. Über Informationsflüsse. Die von anderen Informationen beeinflusst werden. Die wiederum demokratische Entscheidungen beeinflussen. Und da man Demokratie schützen muss, darf man Informationen über Informationen sammeln, die Informationen beeinflussen, um zu prüfen, ob sie vielleicht unzulässigerweise Informationen beeinflussen.

So entsteht ein beinahe metaphysisches Gebilde: Eine Institution, die gewissermaßen die Gedankenströme Europas auf Karies untersucht. Nicht, um sie zu korrigieren, nein — nur um prophylaktisch festzustellen, ob irgendwo eine russische oder sonstige „bösartige“ Partikel klebt. Das ist nicht geheimdienstlich, sagt man in Brüssel, sondern schlicht „verantwortungsvoll“. Und wer würde denn bitte gegen Verantwortung sein?

Die Mitgliedstaaten: apathische Giraffen im institutionellen Nebel

Während sich Kontinente verschieben, Demokratien wanken, Kriege entgleisen und Staatshaushalte schwitzen wie finnische Saunatouristen, stimmen die Mitgliedstaaten dieser Architektur in erstaunlicher Gleichmut zu. Man könnte meinen, sie seien die letzten Romantiker Europas: Sie glauben einfach daran, dass nichts Schlimmes passieren kann, solange das Wort „Kommission“ daraufsteht.

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Dass manche Zuständigkeit in den EU-Verträgen nicht vorgesehen ist? Ach was. Diese Dokumente sind doch nicht als Einschränkung gedacht, sondern als freundliche Empfehlung, ähnlich wie die Hinweise auf Haarshampoo-Flaschen: „Augenkontakt vermeiden“. Man nimmt es zur Kenntnis — und ignoriert es.

Geldströme nach Osten – eine europäische Lotterie ohne Ziehung

Während Brüssel seine neuen institutionellen Sphären bastelt, regnet es Milliarden auf ein Land, dessen Staatsapparat noch immer im Clinch mit der Korruption liegt, so wie ein Tennisspieler mit einem besonders bockigen Netzpfosten. Man könnte meinen, die EU würde zumindest wissen wollen, ob das Geld ankommt. Aber Wissen ist ja bekanntlich Macht — und Macht legt man in Brüssel lieber in neue Abteilungen, denn in lästige Kontrollsysteme.

Gleichzeitig finanziert Europa großzügig jene, die – aus sehr menschlichen Gründen – lieber in europäischen Sozialämtern als in Schützengräben stehen. Das ist humanitär, zweifellos. Doch es ist auch eine herrlich bizarre Form geopolitischer Selbstsabotage: Man rüstet einen Staat auf, während man seine Wehrfähigen alimentiert. Eine historische Premiere der strategischen Dialektik.

Ein zersplitterter Westen, ein monotones Russland

Der Westen verirrt sich derweil in einem polyphonen Chor von Interessen. Berlin zahlt, ohne zu gestalten. Paris denkt in Generälen. Rom denkt an Weinbauzonen. Warschau an Schlachtfelder. Madrid an Strandtourismus. Und London an sich selbst. Europa ist ein Ensemble, das ohne Dirigenten spielt, während die USA den Konzertsaal gelegentlich verlassen, um auf dem Parkplatz populistische Autogramme zu geben.

Auf der anderen Seite ein Russland, das über klare Befehlslinien verfügt, eine Kommandokultur hat, die nicht an deliberativen Prozessen scheitert, und eine Rüstungsindustrie, die in Schichten arbeitet, die man in Europa allenfalls aus dem Bäckereigewerbe kennt.

Der Westen im Selbstbetrug – und die Rüstungskonjunktur als Orchidee

Währenddessen blüht eine Branche wie eine Orchidee auf einem Misthaufen: die Rüstungsindustrie. Sie gedeiht, sie duftet – zumindest nach Aktionärslogik – und sie wird sorgfältig gegossen. Eine Rückkehr zur Diplomatie? Unpraktisch. Friedensdynamik? Schwer verkäuflich. Stattdessen bastelt man in Brüssel an immer neuen Formaten, Werkzeugen und Mechanismen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie alles Mögliche tun — außer Frieden ermöglichen.

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Europas diplomatisches Vakuum und die Sehnsucht nach einem neutralen Tisch

Während die großen EU-Strukturen immer wuchtiger, aber nicht kompetenter werden, suchen einige nach kleineren, realistischen Formaten, die etwas bewegen könnten. Ein Kreis weniger Staaten, die tatsächlich verteidigungs- und außenpolitisch handlungsfähig wären.

Und dann wäre da noch Wien, dieses traditionsreiche diplomatische Kaffeehaus Europas. Neutral auf dem Papier, politisch ein Chamäleon, aber historisch gesehen ein Ort, an dem man sich selbst mitten im Kalten Krieg noch die Hand geben konnte, ohne vorher die Finger zu zählen. Vielleicht wäre es wieder Zeit für einen solchen Ort.

Europa auf dünnem Eis – und das Wasser steigt

So steht der Kontinent da wie ein Eisläufer, der glaubt, Stabilität entstehe durch Geschwindigkeit. Man rast über das Eis, während hinter einem bereits kleine Risse aufblitzen. Doch anstatt anzuhalten, ruft man nach neuen „Kompetenzen“, neuen „Mechanismen“, neuen „Zentren“. Ironischerweise entsteht so eine EU, die zu groß ist, um sich zu bewegen, und zu klein, um Verantwortung zu tragen.

Doch eines steht fest: Wenn Europa nicht bald beginnt, seine demokratische Selbstkontrolle ernst zu nehmen, wird die Kommission weiter an Stellen wachsen, die nie für sie vorgesehen waren. Und dann wird man irgendwann zurückblicken und feststellen, dass der Kontinent nicht an äußeren Feinden scheiterte — sondern an einer Bürokratie, die sich selbst für unverzichtbar hielt.

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