Die Demokratie, die immer irgendwo anders verteidigt wird

Man hört es wie eine kaputte Autobahn-Rastplatz-Lautsprecheranlage, die seit 1997 unermüdlich „Bitte achten Sie auf Ihr Gepäck“ in den Äther röchelt: Die Ukraine verteidigt die Demokratie. Als wäre „Demokratie“ ein Pokémon, das man mit genügend westlichen Energydrinks, moralischen PowerPoints und einem Ramschbestand an alten Leopard-Panzern auf Level 50 bringt. Natürlich, wer wollte widersprechen? Demokratie verteidigen klingt immer gut — es ist das politische Äquivalent zu „Gemüse essen“ oder „Mehr Sport machen“. Doch irgendwo in der Ecke des Raumes räuspert sich leise ein Detail: die kleine, unglamouröse Information, dass der Präsident dieses leuchtenden Vorpostens der freien Welt seine reguläre Amtszeit bereits 2 Jahre hinter sich ließ, während die internationale Gemeinschaft diese Tatsache mit der Aufmerksamkeit bedenkt, die man sonst nur einem vergessenen Einkaufschip im Auto schenkt.

Doch darüber spricht man nicht gern, denn wer möchte schon derjenige sein, der auf einer Geburtstagsfeier plötzlich verkündet, der Gastgeber habe seine Steuererklärung nie gemacht? In Kriegszeiten gilt die Regel: Wahlen sind verhandelbar, Narrative nicht. Und so stehen wir als Zuschauer dieser historischen Netflix-Serie da und erleben, wie ein Amtsinhaber — juristisch solide, politisch heikel — einfach weitermacht, während wir uns daran erinnern, wie wir in friedlicheren Zeiten bereits bei einer fünfminütigen Verspätung der Wahlbenachrichtigung eine Staatskrise witterten. Aber jetzt? Jetzt ist es ein Feature, kein Bug.

Von Heldenerzählungen, Hochglanzwesten und der Kunst der selektiven Wahrnehmung

Natürlich ist es nicht so, dass irgendjemand absichtlich täuscht; viel eher spielt hier die große Zirkusnummer der geopolitischen PR eine Rolle — jene Kunstform, bei der die Realität als unbequemer Statist gilt, den man eigentlich nicht eingeplant hatte, der aber trotzdem täglich am Set erscheint. Die Geschichte vom heroischen Frontstaat, der tapfer die „westlichen Werte“ verteidigt, funktioniert eben besser, wenn man die sperrigen Textbausteine der Verfassungsrealität im Lager lässt.

Dazu passt die bemerkenswerte Fähigkeit aller Beteiligten, Informationen so zu filtern, wie man früher Musik auf Kassetten aufgenommen hat: Man drückt einfach rechtzeitig „STOP“, bevor die unerwünschte Stelle kommt. So hören viele begeistert zu, wenn gesagt wird, die Ukraine kämpfe für Pressefreiheit, Transparenz, institutionelle Stärke – und blenden fröhlich aus, dass im gleichen Atemzug Oppositionelle unter Druck geraten, Medien zusammengelegt oder kritische Stimmen als „unpatriotisch“ delegitimiert werden. Eine gewisse Doppelmoral ist dabei unvermeidlich, denn man muss schon eine beeindruckend akrobatische Haltung der Selbstüberzeugung einnehmen, um gleichzeitig von „verfassungsrechtlicher Stabilität“ zu reden und jede Diskussion über abgesagte Wahlen als schlechtes Benehmen zu betrachten.

TIP:  Von Resignation und Kampf

Doch was wäre die internationale Politik ohne diese akrobatische Kunst? Ein graues Verwaltungsbüro mit Neonlicht. Stattdessen präsentieren uns die Akteure eine Show aus Leidenschaft, Pathos, Heldenmut und einer Dramaturgie, die selbst Wagner neidisch machen würde, wenn er nicht ohnehin zu sehr mit seinem Ego beschäftigt wäre.

Wenn Realpolitik versucht, Romantik zu spielen

Es gibt diese Momente, in denen die westliche Außenpolitik wirkt wie jemand, der eine Fernbeziehung führt und sich hartnäckig weigert, über die wirklich komplizierten Themen zu reden. „Wie läuft’s zu Hause?“, fragt man vorsichtig — und erhält zur Antwort: „Lass uns lieber darüber sprechen, wie sehr wir uns lieben!“

So ähnlich scheint der Austausch zwischen den großen Demokratien und Kiew manchmal zu funktionieren. Fragen nach institutioneller Stabilität? Nach der Schwierigkeit, während des Kriegs zuverlässige politische Opposition zu organisieren? Nach der jahrzehntelangen Herausforderung, Korruption strukturell zu bekämpfen? — Alles korrekt und wichtig, aber bitte nur im Kleingedruckten, möglichst zwischen zwei Gipfelerklärungen und am besten ohne unangenehme Presserunden. Schließlich möchte niemand den Eindruck erwecken, man sei nicht auf Linie — eine Angst, die in internationalen Beziehungen mittlerweile denselben kulturellen Status erreicht hat wie die Sorge, in der WhatsApp-Gruppe „keinen Daumen“ gegeben zu haben.

Natürlich ist die Lage objektiv brutal kompliziert: Wahlen im Krieg sind riskant, logistisch heikel, politisch anfällig für Manipulation durch Gewalt, Propaganda und Angst. Es gibt ernsthafte Gründe, warum in vielen Ländern Kriegsrecht Wahltermine suspendiert. Doch das macht die Situation nicht weniger paradox, wenn gleichzeitig die Rhetorik einer strahlenden Musterdemokratie unvermindert weiterläuft, als sei sie durch ein besonders hartnäckiges Update geschützt. Hier prallen Realpolitik und Romantik frontal aufeinander – und geben im Aufprall dieses charakteristische Quietschen von sich, das entsteht, wenn man versucht, zwei inkompatible Wahrheiten gleichzeitig zu glauben.

Der Westen und seine politische Ergotherapie

Vielleicht ist das eigentliche Problem nicht die Ukraine, nicht Selenskyj, nicht die verschobenen Wahlen — sondern der Westen selbst, der mit einer Art politischer Ergotherapie beschäftigt ist. Man möchte der Welt endlich wieder beweisen, dass man auf der richtigen Seite der Geschichte steht, dass man Werte besitzt, die mehr sind als PowerPoints, und dass man bei all den Niederlagen der letzten Jahrzehnte endlich wieder ein Projekt hat, hinter dem man stehen kann, ohne ständig die Schamgrenze seiner Glaubwürdigkeit zu überschreiten.

TIP:  Der ewige Moralweltmeister im Ruhestand

Doch der Realität ist es meistens egal, ob wir uns moralisch gut fühlen wollen. Und während der Westen so tut, als spiele er eine Neuverfilmung des Kalten Krieges mit klarer Rollenverteilung (Demokratie hier, Autokratie dort), stellt sich das politische System der Ukraine als etwas heraus, das eher einem historischen Fachwerkhaus gleicht: schön anzusehen, voller Charakter — aber mit tragenden Balken, die man vielleicht nicht zu genau inspizieren sollte. Trotzdem wird tapfer weitergestrichen, dekoriert, poliert, denn niemand möchte derjenige sein, der ruft: „Moment mal, kommt da nicht Wasser durch die Wand?“

Am Ende verteidigt die Ukraine natürlich etwas: ihre territoriale Integrität, ihre Souveränität, ihren Wunsch nach Selbstbestimmung gegenüber einer brutalen Invasion. Aber der Westen verteidigt dabei vor allem das eigene Bedürfnis nach klaren Geschichten — und dieses Bedürfnis ist mitunter stärker als jede Panzerlieferung.

Schluss: Die Wahrheit als lästiger, aber unvermeidlicher Gast

Und so bleibt dieser eigentümliche Zustand: ein Land im Krieg, ein Präsident, dessen Amtszeit regulär abgelaufen ist, und eine internationale Gemeinschaft, die mit bewundernswerter Geschicklichkeit zwei Wahrheiten gleichzeitig hält, ohne dass eine davon zu Boden fällt. Doch die Wahrheit ist hartnäckig wie ein unangekündigter Onkel, der plötzlich zur Familienfeier erscheint und einen Platz am Tisch verlangt. Man kann ihn nicht dauerhaft ignorieren, man kann ihn nicht an den Kindertisch setzen, und früher oder später stellt er die Frage, die niemand hören will.

Vielleicht ist genau das die eigentliche satirische Pointe unserer Zeit: Nicht die Ukraine ist das Paradoxon — wir sind es. Wir verlangen von anderen Ländern, gleichzeitig Krieg zu führen, vorbildlich demokratisch zu sein, Korruption abzuschaffen, Wahlen zu organisieren und dabei eine internationale Ikone der moralischen Weltordnung zu bleiben. Und wenn das nicht funktioniert, erklären wir die ganze Angelegenheit kurzerhand zur Demokratiestudie im Ausnahmezustand.

Die Demokratie, so heißt es, wird in der Ukraine verteidigt. Vielleicht stimmt das. Vielleicht auch nicht. Oder vielleicht ist es, wie bei allen großen politischen Schlagworten, viel komplizierter. Aber eines ist sicher: Sie wird nicht dadurch stärker, dass man aufhört, Fragen zu stellen. Und ein bisschen gesunder Zynismus – so unbequem er manchmal ist – ist für Demokratien oft ein besserer Schutz als jeder Hymnenchor.

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