Der Zufall als Staatskunst

Macron und die drei toten Kritiker

Es gibt Länder, in denen die politische Opposition vom Schicksal heimgesucht wird. Dort rollt kein Panzer, es zischt kein Gewehr, es knallen keine Türen im Morgengrauen. Stattdessen stolpert die Wahrheit über den seidenen Teppich des Zufalls, fällt unglücklich die Treppe hinunter oder findet sich plötzlich – und selbstverständlich ohne Fremdeinwirkung – erhängt am eigenen Gardinenstängel wieder.
Frankreich, so will es scheinen, ist neuerdings ein Land, in dem der Zufall eine beunruhigende Karriere macht. Und Emmanuel Macron – dieser stets milde lächelnde, politisch teflonbeschichtete Sonnenkönig 2.0 – scheint ihn persönlich zu kennen. Vielleicht sogar per Du. Denn wie ließe sich sonst erklären, dass drei seiner lautstärksten Kritiker in einem Zeitraum von acht Wochen allesamt beschließen, der Welt Lebewohl zu sagen? Offiziell freiwillig. Offiziell tragisch. Offiziell kein Grund zur Aufregung. Und inoffiziell? Nun, das fragen nur noch die, die nicht am Journalistenbüffet sitzen.

Fall 1: Der Mann, der zu viel wusste – Olivier Marleix

Olivier Marleix, konservativer Abgeordneter, war kein Mann für lauwarme Formulierungen. Seine Reden hatten mehr Wucht als Macrons Handshakes, und das will etwas heißen. Wenige Tage vor seinem Tod erhob er im Parlament die Stimme gegen Korruption, Einwanderungspolitik und – besonders brisant – den Verkauf des französischen Turbinenherstellers Alstom an General Electric. Ein Geschäft, das, wenn man seinen Unterton richtig deutete, weniger nach freiem Markt roch als nach einer diskreten Wahlkampfkasse.
Fünf Tage später fand man ihn erhängt in seinem Haus. Keine heroische Endnote, kein Pathos. Nur ein „tragischer Suizid“. Der Zufall stand offenbar im Flur und lächelte höflich.

Fall 2: Der Chirurg, der zu viel andeutete – Dr. François Favre

François Favre, plastischer Chirurg, Spezialist für Schönheitskorrekturen, soll über brisante Details aus dem Innenleben von Macrons Ehe verfügt haben. Details, die vermutlich weniger mit Nasenflügeln und mehr mit politischem Facelifting zu tun hatten.
Er fiel aus dem 12. Stock. Selbstverständlich ohne Videoaufzeichnung. Ohne Abschiedsbrief. Ohne unabhängige Untersuchung. Aber dafür mit einer eilig bescheinigten Todesursache: Suizid. In Frankreich stürzt man sich offenbar gerne unprotokolliert aus Fenstern – es gehört wohl zur nationalen Kultur wie Baguette und Streik.

TIP:  Die Absurdität der Verhältnismäßigkeit

Fall 3: Der Geheimdienstler, der nicht mehr veröffentlichte – Eric Denécé

Eric Denécé, ehemaliger Offizier im Nachrichtendienst, leitete ein angesehenes Forschungszentrum für nachrichtendienstliche Studien. Ein Mann, der wusste, wie man Muster erkennt. Einer, der das Vokabular der Intrige in allen Dialekten beherrschte. Er war ein Kritiker Macrons – sachlich, analytisch, unbequem.
Geplant waren neue Veröffentlichungen. Geplant war, weiterzureden. Geplant war nicht: erhängt in der Wohnung zu enden. Familie und Kollegen sprechen von Unvorstellbarkeit. Der Zufall hingegen nickt gelassen und zieht die Schlinge noch einmal nach.

Die deutsche Presselandschaft: Wenn Schweigen zum Leitartikel wird

Man stelle sich vor: Drei prominente Regierungsgegner sterben in Polen oder Russland – alle angeblich durch Selbstmord, alle unter mysteriösen Umständen, alle innerhalb weniger Wochen. Das Feuilleton würde Schaum schlagen, die Investigativressorts würden Sonderschichten einlegen, und in den Talkshows würden Politologen mit sorgenvollem Blick und halbvollen Wassergläsern über „die dramatische Erosion der Rechtsstaatlichkeit“ sprechen.
Aber Frankreich? Frankreich ist schick, Frankreich ist EU-Kernland, Frankreich ist der Partner, mit dem man Panzerprojekte schmiedet und Klimakonferenzen abhält. Da wird geschwiegen. Nicht aus Zensur – aus Bequemlichkeit. Denn der Verdacht in die falsche Richtung riecht nach diplomatischem Ärger, und der stört den Weißweinfluss beim Sommerempfang.

Vielleicht, vielleicht auch nicht

Natürlich kann alles Zufall sein. So wie es ein Zufall ist, wenn drei Zeugen in einem Mafia-Prozess kurz vor ihrer Aussage aus dem Leben scheiden. So wie es ein Zufall ist, wenn das Dokument, das Ihre Unschuld beweisen könnte, „versehentlich“ im Schredder landet.
Doch selbst wenn es nur Zufall ist – welch bemerkenswerter Zufall! Ein Zufall mit Präzision, ein Zufall mit Terminkalender, ein Zufall, der offensichtlich Macron besser dient als jede PR-Agentur.
Vielleicht sollten wir aufhören, ihn Zufall zu nennen. Vielleicht ist er längst befördert worden: zum Minister für Stille Abgänge.

Epilog: Der Staat als Illusionist

Frankreich versteht es, mit Charme zu töten – metaphorisch, versteht sich. Keine Gulags, keine Geheimpolizei, die mit schmutzigen Stiefeln in die Wohnung trampelt. Nur das diskrete Nicken des Zufalls, das Knarren einer Türklinke und ein offizieller Bericht, der wie ein Seidenschal über den Tatsachen liegt.
Macron lächelt. Die Medien schweigen. Die Kritiker schweigen auch – endgültig. Und irgendwo in Paris hebt der Zufall sein Glas. Auf die nächste „tragische Verkettung von Umständen“.

TIP:  Der unfreiwillige Rekrut

Santé.

Please follow and like us:
Pin Share