Der woke Index librorum prohibitorum

Von der Kultur des Lesens zur Kultur der Warnschilder

Es war einmal eine Zeit, in der Bibliotheken als Tempel des Wissens galten, als heilige Stätten der Freiheit des Geistes. Doch heute, inmitten des Zeitalters der digitalen Empörung und der moralischen Entrüstung, scheinen diese ehrwürdigen Institutionen ihr Sakrileg darin zu finden, dass sie „falsche“ Bücher nicht genügend brandmarken. So erleben wir nun die Wiedergeburt eines Phänomens, das man aus der Geschichte zu kennen glaubte: den Index der verbotenen Bücher – diesmal jedoch im Mantel der Tugend und der „Wokeness“. Willkommen in der Ära des „Woke Index librorum prohibitorum“.

Von warnenden Stickern und moralischen Hochämtern

Nichts schreit „Demokratie“ lauter als eine öffentliche Warnung vor Büchern, die es wagen, gegen den heiligen Geist der Zeit zu verstoßen. „Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt“, steht da, mit der wohlwollenden pädagogischen Note versehen, dass dieser Text womöglich „nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar“ sei. Diese Mahnung an den Leser, der offenbar weder eigenständiges Denken noch kritisches Urteilsvermögen besitzt, schmückt nun die Werke von Autoren, die es gewagt haben, aus der Reihe zu tanzen – oder schlimmer noch, gegen die Regeln des virtuellen Empörungstribunals zu verstoßen.

Ironischerweise wird die Warnung selbst von der hehren Freiheit der Meinungsäußerung gerechtfertigt. Die Ironie springt förmlich aus dem Regal: „Aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt“. Das ist, als würde man einem Schwerverletzten sagen: „Wir lassen Sie hier liegen, damit Sie sich frei fühlen können, zu verbluten.“

Bibliothekare als Wächter des Tugendkanons

Man stelle sich einen Bibliothekar vor, dessen Berufung einst darin bestand, Wissen zu ordnen und zugänglich zu machen. Nun jedoch wird er – oder, um gendergerecht zu bleiben, sie oder x – zum moralischen Zensor degradiert. Ohne Ausbildung in Philosophie, ohne vertiefte Kenntnisse der politischen Ideengeschichte und oft ohne nennenswerte Leselust, entscheiden diese neuen Hohepriester der Tugend darüber, was ein Werk „umstritten“ macht. Sie leisten damit nicht nur Beihilfe zur Intellektuellenverflachung, sondern auch zur Unterdrückung des demokratischen Diskurses.

TIP:  Pannonischer Walzer

Man kann nur hoffen, dass das klassische Bibliothekarsklischee – das Bild der schweigsamen, literarischen Gelehrten hinter der dicken Brille – nicht von einem modischen Aktivisten mit Hipster-Brille und Latte-Macchiato ersetzt wird, der mit moralischer Inbrunst „toxische Inhalte“ aus den Regalen entfernt.

Die Rückkehr der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“

Die Ähnlichkeiten zur Vergangenheit sind frappierend. Einst waren es die Nationalsozialisten, die in ihrer berüchtigten „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ Autoren und Werke katalogisierten, die nicht mit der Ideologie des Regimes übereinstimmten. Bücher wurden verbrannt, Stimmen zum Schweigen gebracht, Meinungen ausradiert. Heute geschieht dies subtiler, unter dem Deckmantel der Schutzhaft des Geistes.

Natürlich, niemand verbrennt Bücher. Aber wer braucht Flammen, wenn Sticker genügen? Es ist, als hätte man die Scheiterhaufen von damals durch Metaphern ersetzt. Es riecht nicht nach Rauch, aber der Gestank der Selbstgerechtigkeit erfüllt dennoch die Luft. Die Idee bleibt dieselbe: Die „gute Gesellschaft“ weiß besser, was du lesen solltest – oder vielmehr, was du nicht lesen solltest.

Die paradoxe Tyrannei der „offenen Gesellschaft“

Die Tragik dieser Entwicklung liegt in ihrer tiefen Paradoxie. In einer offenen Gesellschaft sollten Ideen – und seien sie noch so abwegig oder abstoßend – auf den Prüfstand der Kritik gestellt werden. Das eigentliche Ziel der Aufklärung war es, die Dunkelheit der Ignoranz durch die Macht der Vernunft zu vertreiben. Doch heute scheint man die Dunkelheit durch die flackernden Bildschirme der Cancel Culture zu ersetzen.

Die Warnsticker auf den Büchern senden eine Botschaft: „Vertraue nicht deinem eigenen Urteilsvermögen. Vertraue uns.“ Doch das ist das genaue Gegenteil dessen, was demokratische Bildung anstrebt. Wir sollten Menschen beibringen, sich mit schwierigen Ideen auseinanderzusetzen, nicht sie davor schützen.

Ein augenzwinkernder Blick in die Zukunft

Vielleicht sollten wir die Sache mit Humor nehmen. Stellen Sie sich vor, Kafka bekäme einen Sticker: „Warnung: Dieses Buch enthält übermäßigen Pessimismus und könnte depressive Episoden auslösen.“ Oder Orwell: „Achtung: Dieses Buch könnte paranoide Gedanken über Überwachung fördern.“ Und was ist mit der Bibel? „Inhalt kann religiöse Gefühle verletzen oder zu fundamentalistischen Interpretationen führen.“ Willkommen im Absurditätenkabinett!

TIP:  Der blinde Fleck Europas

Der „Woke Index librorum prohibitorum“ könnte sogar eine ganze Industrie befeuern. Kurse wie „Wie lese ich ein umstrittenes Buch richtig?“ könnten die Universitäten fluten. Der Begriff „umstritten“ würde zum Verkaufsargument: Nichts verkauft sich besser als das Verbotene. Wer hätte gedacht, dass Bibliotheken einst zur Marketingabteilung des Dissenses werden würden?

Eine Einladung zur Rebellion

Was bleibt, ist eine Aufforderung: Lasst uns wieder die Bücher lesen, die uns herausfordern, die uns ärgern, die uns zum Nachdenken zwingen. Lasst uns die Sticker ignorieren, die Warnungen in den Wind schlagen. Wer lesen kann, der sollte auch denken können. Und wer denken kann, der wird früher oder später erkennen, dass keine Warnung der Welt uns von der Freiheit des Geistes abhalten darf – es sei denn, wir lassen es zu.

Der Index der verbotenen Bücher mag ein Anachronismus der Vergangenheit sein. Doch in seiner neuen, woke getarnten Form zeigt er uns, wie zerbrechlich die Freiheit ist – und wie wichtig es ist, sie zu verteidigen.

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