Der Westen am Rande eines Bürgerkriegs?

Die Wissenschaft als Orakel – oder: Wenn Professoren zu Propheten mutieren

Es ist eine eigentümliche Ironie unserer Zeit, dass die Apokalypse nicht mehr von bärtigen Propheten mit flatterndem Gewand auf Marktplätzen verkündet wird, sondern von Männern im Anzug, die zwischen zwei PowerPoint-Folien und einer Tasse „Fair-Trade-Espresso“ nüchtern darauf hinweisen, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Bürgerkrieg in Europa bei über fünfzig Prozent liege. Professor David Betz vom King’s College – man muss ihm Respekt zollen – spricht nicht in Schlagzeilen, sondern in Tabellen. Kein Trompetenstoß, kein Jeremiad, nur die kühle Statistik: Das Pulverfass ist gebaut, der Zünder liegt bereit, und alles Weitere ist eine Frage der Geduld. Man könnte beinahe meinen, die Moderne habe selbst die Katastrophe verwaltet – als säße der Untergang bereits in einer Excel-Tabelle und warte geduldig darauf, dass jemand die Zelle aktualisiert.

Fraktionalisierung: Vom Volk zum Shisha-Club

Die sogenannte „Fraktionalisierung“ klingt harmlos, beinahe nach einem mathematischen Hobby für gelangweilte Statistiker. In Wahrheit ist es die höfliche Umschreibung für das, was wir im Alltag sehen: Eine Gesellschaft, die so fragmentiert ist, dass sie eher einem Flickenteppich gleicht, bei dem die Nähte knarzen. Wo früher eine vage Vorstellung von „Wir“ existierte – man konnte sich immerhin noch gemeinsam über die Steuern, das Wetter oder den Schiedsrichter im Fußballspiel aufregen –, herrscht heute ein „Jeder für sich“. Ethnische, kulturelle, ideologische Kleinstaaterei. Der Westen ist nicht mehr die Polis, sondern ein Shisha-Club neben einer Craft-Beer-Bar, neben einer Gender-Studien-Lounge, und alle betrachten einander mit der Mischung aus Misstrauen und Arroganz, die traditionell Kriege gebiert.

Multikulturalismus: Die gute Idee, die in der Praxis in den Straßenschluchten endete

Das multikulturelle Projekt, dieses große moralische Experiment der Nachkriegszeit, hat in den Hochglanzbroschüren der 1990er Jahre blendend funktioniert. Alle Menschen, so versprach man, würden sich in einem Kaleidoskop bunter Vielfalt gegenseitig bereichern. Doch leider verhält sich die Realität ungern wie eine UNESCO-Werbekampagne. Robert Putnam hat es wissenschaftlich nachgewiesen, die Menschen spüren es alltäglich: Je vielfältiger die Nachbarschaft, desto mehr verriegeln wir die Türen, ziehen die Vorhänge zu und starren auf Netflix. Der Traum von der großen, weltoffenen Gemeinschaft wurde zum Albtraum der Parallelgesellschaften. Man predigte Integration, aber baute Ghettoisierung. Man rief nach Vielfalt, erhielt jedoch Entfremdung. Und wer das zu benennen wagt, darf sich sicher sein, als Populist, Rassist oder, noch schlimmer, als „Stammtischdenker“ verbannt zu werden.

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Die Erwartungslücke: Von der Eigentumswohnung zum Hamsterrad

Die eigentliche Sprengkraft liegt aber nicht allein im kulturellen Auseinanderdriften, sondern in der ökonomischen Falle. Jahrzehntelang versprach man den Bürgern, dass es ihren Kindern besser gehen würde. Heute wissen die Kinder: Es war eine Lüge. Wer in Berlin, Paris oder London eine Wohnung kaufen will, braucht wahlweise einen Lottogewinn, wohlhabende Eltern oder einen Karriereweg als Oligarchenberater. Stattdessen: befristete Verträge, wachsende Abgaben und eine Rente, die sich bestenfalls noch für Heizkosten eignet. Politik reduziert sich zum moralischen Kabarett: Statt Lösungen gibt es Appelle. Statt Substanz: Hashtags. Kein Wunder, dass die Überzeugung wächst, Wahlen änderten nichts – außer der Friseurwahl des Kanzlers.

Die Mathematik des Untergangs

Die Politikwissenschaft hat den Bürgerkrieg längst berechnet. Vier Prozent Wahrscheinlichkeit pro Jahr – das klingt so nüchtern wie eine Versicherungspolice. Doch vier Prozent jährlich bedeuten: In fünf Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit bei knapp zwanzig Prozent, und wenn man die Dominoeffekte hinzuzählt, marschiert man schnell auf sechzig Prozent zu. Europa spielt russisches Roulette mit fünf Patronen im Revolver – und streitet gleichzeitig darüber, ob man beim Abdrücken gendergerechte Sprache verwenden sollte.

Verwaltete Demokratie: Das Schauspiel der Ohnmacht

Sheldon Wolins Begriff der „verwalteten Demokratie“ trifft das Herz des Problems: Wahlen sind heute Operettenaufführungen. Das Bühnenbild wechselt, die Kostüme auch, aber das Stück bleibt gleich. Links, rechts, Mitte – am Ende werden Schulden gemacht, Bürokratien vergrößert und internationale Konferenzen mit großen Worten abgehalten. Der Bürger merkt: Sein Kreuz auf dem Stimmzettel hat die politische Wirkung einer Glückskeks-Botschaft. Die Demokratie ist formal intakt, doch inhaltlich versteinert. Wir wählen nicht mehr Regierungen, wir wählen Animateure.

Europa am Scheideweg: Retribalisierung oder Renaissance?

Die düstere Vision lautet: „Retribalisierung“. Der Rückfall in kleine, ethnisch definierte Gruppen, die nicht mehr durch eine gemeinsame Idee des Nationalstaats verbunden sind. Jeder Clan für sich, jeder Bezirk seine eigene Ordnung, und dazwischen Polizei, die längst zum Notarzt des Sozialen degradiert wurde. Ein Szenario, das an Jugoslawien erinnert – nur diesmal nicht auf dem Balkan, sondern mitten im Herzen der EU. Doch noch ist nichts unvermeidlich. Es gäbe die Möglichkeit einer echten Erneuerung – einer Politik, die Integration nicht nur predigt, sondern fordert; die Gemeinsinn nicht belächelt, sondern belohnt; die nationale Identität nicht als Relikt der Vergangenheit behandelt, sondern als Fundament für Zukunft. Nur: Wer soll das durchsetzen? Eine politische Klasse, die seit Jahren beweist, dass sie Probleme nicht löst, sondern verwaltet wie Altakten?

TIP:  Wenn schon, denn schon!

Die Ironie des Untergangs

So bleibt die bittere Pointe: Ausgerechnet jene, die vor „Populismus“ warnen, schaffen durch ihr Wegsehen die Bedingungen, in denen Populismus gedeiht. Wie ein Arzt, der den Patienten mit „Es ist nur ein Schnupfen“ vertröstet, während die Lunge kollabiert. Napoleon hatte recht: Der Krieg bildet nicht den Charakter, er enthüllt ihn. Vielleicht steht Europa also nicht vor einem Bürgerkrieg, sondern vor einem großen Reality-Check: Wie viel „Zusammenhalt“ ist noch übrig, wenn die Illusionen zerfallen?

Und man fragt sich: Wenn die Wahrscheinlichkeit tatsächlich bei sechzig Prozent liegt – wo wetten wir dagegen? Oder ist das Casino längst geschlossen, weil das Personal im Schichtdienst auf der Straße demonstriert?

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