Der Vergleich macht sie sicher

Das Land der Hymnensinger und der Maskenverweigerer

Es ist ein Bild, das uns Deutschen schwer zu begreifen scheint: Zwei Politiker aus verschiedenen Lagern, die sich gegenseitig die politische Existenz ruinieren wollen, stehen nebeneinander und singen die Nationalhymne. Keine Kinnlade klappt herunter, keine Twitter-Debatte bricht los, keine Schlagzeile titelt: „Skandal! Gemeinsam gesungen – Verrat am Wähler!“ Nein, das ist Alltag. Das nennt man Demokratie in ihrer postpubertären Phase. Und dann gibt es uns: das Land, in dem Friedrich Merz Alice Weidel nicht einmal grüßt, weil er befürchtet, ein einziges mürrisches Nicken könnte ihm die letzten Reste des politischen Anstands kosten, den er ohnehin nur noch als Ruine mit sich herumträgt.

In Deutschland sind wir keine Demokratie, wir sind ein Drama. Wir sind eine Netflix-Serie, deren Plot sich permanent überschlägt, ohne je zur Pointe zu kommen. Jeder zweite Deutsche glaubt, Demokratie sei kein Prozess, sondern eine emotionale Zerreißprobe. Wie Kinder, die das Spiel „Ich hab dich mehr lieb!“ mit einer nationalen Grundordnung verwechseln. Man feiert die moralische Überlegenheit wie andere den Abschluss eines Yoga-Kurses, verwechselte Prinzipientreue mit Selbstmord aus Angst vor dem Tod und bricht sich dabei vor lauter Reflexion permanent selbst das Rückgrat. Das ist keine Demokratie. Das ist eine Seifenoper in Sandalen.

Friedrich Merz, Alice Weidel und die Kunst der Nicht-Begegnung

Man stelle sich das vor: Friedrich Merz, jener Mann, der so aussieht, als hätte er als einziger Mensch der Welt einen Vertrag mit dem Thermomix über den Ausdruck von Emotionen abgeschlossen, trifft Alice Weidel, jene Personifikation von passiv-aggressivem Sarkasmus in Menschengestalt. Er sieht sie, sie sieht ihn, und statt eines simplen „Hallo“ bricht in Merz’ Kopf der interne Alarm los: „Was, wenn jemand denkt, ich stimme ihr zu?“ Dieser Gedanke ist der Todfeind jeder deutschen Debatte: Nicht, was du sagst, ist entscheidend, sondern was irgendwer glauben könnte, was du meinen könntest, wenn du nicht das sagst, was du hättest sagen sollen.

TIP:  WIE MAN ZWEIFELSFREI ZUM KRIEGSTEILNEHMER WIRD

Das Ergebnis: In Deutschland ist politische Interaktion keine Debatte, sondern eine moralingetränkte Paranoia-Performance. Der Raum für Zwischentöne existiert nicht, weil wir ihn systematisch ausradiert haben. In den USA hingegen kann sich ein republikanischer Senator mit einem demokratischen Kollegen streiten, als gäbe es kein Morgen, und am Abend zusammen Whiskey trinken, als wäre es nie passiert. Hierzulande? Eine Einladung zum Essen mit jemandem aus der anderen Fraktion könnte eine Karriere beenden. Der Deutsche lebt politisch gesehen in permanenter Angst vor sozialer Kontamination.

Vom Prinzipienreiten und moralischen Exorzismen

Man könnte ja meinen, der Hang zu melodramatischen Prinzipienreitereien sei ein Symptom einer besonders reifen, ach so gewissenhaften Gesellschaft. Doch weit gefehlt! Prinzipien, die in anderen Ländern eine Stütze sind, werden hier zur Waffe. Es ist, als hätte der deutsche Michel einen moralischen Exorzisten in sich wohnen, der bei jeder Gelegenheit „Reinheit!“ schreit, sobald er meint, einen Anflug von Kompromiss oder, Gott bewahre, Menschlichkeit zu wittern.

Was Friedrich Merz also wirklich denkt, wenn er Alice Weidel nicht grüßt, ist nicht: „Ich lehne ihre Positionen ab.“ Es ist viel schlimmer. Er denkt: „Ich kann mir nicht leisten, dass irgendjemand glaubt, ich könnte ihre Existenz tolerieren.“ Diese Art von Reife hat nichts mit Demokratie zu tun. Das ist die politische Version einer toxischen Beziehung, in der beide Partner ständig so tun, als sei der andere gar nicht im Raum, während sie insgeheim jeden Satz des anderen aufschreiben, um ihn später bei einer Fernsehdiskussion als Waffe zu verwenden.

Demokratie als hysterische Selbstdarstellung

Woher kommt das, fragt man sich? Warum sind wir ein Volk, das demokratische Selbstbehauptung mit einem hysterischen Selbstdarstellungsdrama verwechselt? Vielleicht ist es die historische Schuld. Vielleicht ist es das Trauma, so lange keine Demokratie gehabt zu haben, dass wir uns jetzt nicht trauen, ihr zu vertrauen. Aber womöglich ist es noch simpler: Wir sind einfach ein Volk, das Drama liebt.

TIP:  500 Tage

Nehmen wir den durchschnittlichen politischen Skandal in Deutschland. Es muss nichts Großes passieren. Ein falsch gesetztes Gendersternchen, ein unbedachtes Lächeln auf einem Foto mit der falschen Person – und schon ist die halbe Republik in Aufruhr. Auf Twitter tobt der Mob, in Talkshows wird geschwafelt, und im Bundestag rollen Köpfe, metaphorisch gesprochen. In einer reifen Demokratie würde man einfach sagen: „Fehler gemacht, weiter geht’s.“ In Deutschland sagt man: „Das ist das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen!“

Die Hymne als Lackmustest

Was also macht den Unterschied aus? Warum kann man in einem Land gemeinsam die Hymne singen, während man sich politisch an die Gurgel geht, und im anderen nicht einmal denselben Raum betreten? Die Antwort ist einfach und schmerzhaft: Vertrauen. Eine reife Demokratie vertraut darauf, dass ihre Institutionen stärker sind als ihre Schwächen. Eine hysterische Demokratie vertraut darauf, dass sie bei der kleinsten Berührung in sich zusammenfällt.

Der Deutsche glaubt, dass die Demokratie ein Kartenhaus ist, das jede Sekunde einstürzen könnte. Der Amerikaner, der Franzose, der Brite? Die wissen, dass sie eine Burg haben. Und so singen sie ihre Hymnen, streiten lautstark und gehen dann nach Hause. Und wir? Wir reden weiter darüber, ob Friedrich Merz Alice Weidel je grüßen wird. Was für eine Tragödie. Aber hey, wenigstens haben wir dabei unsere Prinzipien.

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