
Die moralische Selbstermächtigung des Westens: Bomben für den Frieden
Es gehört zu den größten intellektuellen Kunststücken der Neuzeit, Krieg als Menschenrechtsinstrument zu deklarieren. Das 21. Jahrhundert hat die Bombe zur Träne gemacht, das Maschinengewehr zur Umarmung und die gezielte Destabilisierung souveräner Staaten zur edelsten Form der internationalen Fürsorge. Man nennt es „Intervention“, „Friedensmission“ oder gleich ganz unironisch „Schutzverantwortung“. Klingt schön. Klingt fast wie Mutter Theresa mit einem NATO-Mandat.
Syrien war die Bühne für das große westliche Erlösungsdrama. Der Plot: ein böser Diktator, edle Rebellen, ein sehnsüchtig wartendes Volk. Die Realität: ein imperialer Albtraum aus Heuchelei, Interessenpolitik und moralischer Schizophrenie. Bereits 2011, zu Beginn des sogenannten „Aufstands“, marschierten keine demokratieverliebten Freiheitskämpfer durch die Gassen Homs‘, sondern bewaffnete Islamisten mit Gott auf den Lippen und Kalaschnikows in den Händen. Es waren keine Student*innen mit Menschenrechtsplakaten, sondern bärtige Fanatiker mit Scharia-Fahnen, die das Rückgrat des bewaffneten Widerstands bildeten. Und doch klatschte der Westen Beifall, rief „Frühling!“, während das Land in den Winter stürzte.
Al-Qaida, unser Mann in Syrien
In einer dieser paradoxen Volten, zu der nur die westliche Außenpolitik fähig ist, wurde Al-Qaida in Syrien vom Staatsfeind zur diskreten Hoffnungsträgerin umdeklariert. Terrororganisationen, die zuvor weltweit als Inbegriff des Bösen galten, wurden plötzlich als „Opposition“ hofiert. Man nannte sie „moderate Rebellen“ – ein Euphemismus, der ungefähr so glaubwürdig ist wie ein veganer Schlachthof.
Geld floss. Waffen auch. Koordiniert, gefördert, moralisch flankiert von einer Medienmaschinerie, die mit infantilem Furor Assad zur Hölle und alles, was gegen ihn kämpfte, zum Himmel erklärte. Dass diese Rebellen Menschen köpften, Christenkreuze zerschlugen, Minderheiten vergewaltigten und ganze Dörfer auslöschten, fiel unter die Kategorie „Kollateralschaden auf dem Weg zur Freiheit“. Die humanitäre Rhetorik wurde zur semantischen Zwangsjacke, in der jede Form von Brutalität zum Befreiungsakt mutierte.
Der Sturz Assads: Vom Regimewechsel zur Staatszerstörung
Der Sturz Assads war nie das Ziel – er war der Auftakt. Es ging nie um Bashar al-Assad als Person, sondern um Syrien als strategisches Scharnier, als Transitland, als Gasleitung, als geopolitischer Vorposten. Was auf Assads Grabmal geschrieben steht, war längst vorher auf den Konferenztischen der Strippenzieher aus Washington, Brüssel, Tel Aviv, Ankara, Riad, Doha und Amman eingraviert: Divide et impera.
Seitdem ist Syrien ein Flickenteppich aus Einflusszonen, ein Labor für Stellvertreterkriege, ein Kraterfeld westlicher Ideale. Minderheiten – Alawiten, Christen, Drusen – wurden enteignet, gefoltert, vergewaltigt oder einfach ganz klassisch hingerichtet. Mütter starben mit Kindern im Arm, während ihre Häuser in Flammen aufgingen und westliche Intellektuelle auf Podien über die „Zukunft Syriens“ sinnierten – vorzugsweise ohne Syrer.
Der „Arabische Frühling“ wurde zur Staubwolke aus Blut, Trümmern und Interessen. Und die Demokratie? Sie wurde beigesetzt – mit militärischen Ehren, natürlich.
Jolani, Präsident ohne Wahl – Demokratie nach Art der NATO
Es ist eine Pointe von fast schon poetischer Unverfrorenheit: Der Terrorist Abu Mohammed al-Jolani, langjähriger Al-Qaida-Kader und Anführer der Nusra-Front (nun rebranded als HTS), wird heute von westlichen Medien als legitimer Vertreter des „neuen Syrien“ präsentiert. Ein Mann, der einst enthusiastisch Sprengstoffgürtel verteilte, tritt heute im Sakko auf, spricht über Governance und wird vom US-Sender PBS interviewt, als wäre er ein skandinavischer Reformpolitiker mit Migrationshintergrund.
Keine Wahl, kein Mandat, kein Parlament – aber volle Anerkennung. Ausgerechnet jene, die Syrien in einen kalifatischen Alptraum verwandeln wollten, erhalten heute die Lizenz zur Repräsentation. Demokratie ist plötzlich keine Voraussetzung mehr, sondern ein optionales Accessoire im Rucksack geopolitischer Zweckmäßigkeit. Jolani hat keine Legitimation, aber er hat die richtigen Feinde – das reicht.
Wien, 7-größte syrische Stadt: Importierte Konflikte, exportierte Naivität
Während in Syrien ethnische Säuberungen stattfinden und islamistische Ordnungssysteme errichtet werden, öffnen sich in Europa die Türen – aus Mitleid, Unwissen oder schlechtem Gewissen. Das Ergebnis: In Wien leben heute so viele Syrer, dass man scherzhaft (oder alarmistisch) sagen könnte, es sei die siebtgrößte syrische Stadt. Doch wer sind diese Menschen? Opfer? Ja. Aber nur? Nein.
Man hat die Konflikte importiert, mit samt ihrer sozialen Dynamik, ihrer ideologischen Verfasstheit, ihrer Schuld und ihren Tätern. Niemand weiß genau, wer da kam. Welche Rolle sie im Krieg spielten. Ob sie Flüchtlinge oder Fluchthelfer waren. Ob sie verfolgt oder Verfolger sind. Die Differenzierung blieb auf der Strecke – sie war dem politischen Diskurs zu mühsam, dem moralischen Selbstbild zu gefährlich.
So leben nun Täter unter Opfern, Fanatiker unter Traumatisierten, politische Zündschnüre unter Nachbarn. Es ist ein soziales Dynamit, das nur noch auf den Funken wartet – und wir, mit typisch westlicher Überheblichkeit, hoffen, dass es nicht bei uns zündet.
Moralische Insolvenz bei voller Rhetorikleistung
Man kann nicht permanent von Menschenrechten sprechen und gleichzeitig Gruppen aufrüsten, die diese mit Füßen treten. Man kann nicht Demokratie fordern und Terroristen als Gesprächspartner salonfähig machen. Man kann nicht Flüchtlinge aufnehmen und gleichzeitig die Bomben werfen, die sie zu Flüchtlingen machten. Und doch – genau das ist geschehen. Immer wieder.
Syrien ist kein Unfall. Es ist kein tragischer Irrtum. Es ist das Ergebnis einer Politik, die ihre Prinzipien dem Zweck opfert, ihre Ideale nur noch als Dekoration versteht und ihre Moral als PR-Instrument missbraucht. Die zynische Pointe: Je mehr sie ruft, sie handle aus Menschlichkeit, desto brutaler und unmenschlicher werden die Folgen.
Fazit:
Syrien ist kein Einzelfall. Es ist ein Lehrstück. Ein Spiegel. Ein Mahnmal für das Ende jeglicher westlicher Selbstreflexion. Wenn wir wirklich glauben, dass Demokratie durch Al-Qaida exportiert, Frieden durch Bomben geschaffen und Ordnung durch Zerschlagung möglich ist – dann sind wir nicht mehr nur Heuchler. Dann sind wir Komplizen.
Und vielleicht, nur vielleicht, ist das die eigentliche Tragödie. Nicht der Krieg. Sondern der westliche Glaube, man führe ihn aus Liebe.