
Er hat recht.
Schon das Aussprechen dieser drei Worte gilt als moralisches Delikt in einem Europa, das sich an die Pose der Entrüstung klammert wie ein Süchtiger an die letzte Zigarette der Selbstgerechtigkeit. Man darf alles kritisieren, alles relativieren, alles in einem Nebensatz ertränken – nur nicht das. Denn dass Netanyahu recht haben könnte, ist der Gedanke, der in den Köpfen unserer politischen Balletttänzer sofort Alarm auslöst: „Achtung, Realität!“
Doch die Realität hat keinen Platz mehr im europäischen Diskurs. Sie stört beim Formulieren. Sie widerspricht den gefühlten Wahrheiten, die in den Pressetexten mit moralischem Schaum überzogen werden. Sie ruiniert den feinen Ton der Diplomatie, in dem der Schmerz stets passiv, die Schuld stets aktiv und die Verantwortung stets verteilt ist.
So bleibt man lieber im wohlig warmen Bad der Selbsttäuschung sitzen, während draußen jemand ruft, dass die Welt brennt.
Und Europa antwortet: „Wir erkennen Palästina an.“
Der Triumph der Sentimentalität
Man erkennt es an. So wie man einen verlorenen Sohn anerkennt, der den Vater niederstach und das Haus angezündet hat.
Man erkennt an – und verwechselt diesen bürokratischen Reflex mit Gnade.
Der europäische Politiker hat ein Herz für Symbole und ein Gedächtnis wie ein Goldfisch. Er erkennt, um zu vergessen. Er erkennt, um zu zeigen, dass er noch existiert. Und während er in Mikrofone haucht, dass „die Gewalt auf beiden Seiten zu verurteilen“ sei, klirren in Nahost die Scheiben, die er nie putzen musste.
Der Satz „auf beiden Seiten“ ist das Opium des Westens. Er betäubt, was schmerzen müsste. Er verwandelt Täter und Opfer in gleichwertige Statisten einer Tragödie, die sich auf europäischem Papier leichter ertragen lässt.
Denn wer beide Seiten verurteilt, verurteilt keine.
Europas Mut zum moralischen Rückzug
Europa ist stark in Erklärungen und schwach in Entscheidungen. Es liebt das Wort „Komplexität“, weil es die feigste aller Ausreden ist. Man ruft „Dialog!“, wenn man Kapitulation meint. Man ruft „Frieden!“, wenn man Stille wünscht.
Das politische Europa ähnelt einem alten Schauspieler, der längst vergessen hat, was das Stück bedeutet, aber die Gesten noch kennt.
Die Anerkennung Palästinas – in diesem Moment, nach diesem Blut, unter diesem Himmel – ist die feierliche Unterschrift unter die eigene Ratlosigkeit. Eine diplomatische Kapitulation, hübsch verpackt in den Jargon der „menschlichen Anteilnahme“.
Man will den Frieden nicht erreichen, sondern sich ihm moralisch nähern, als handle es sich um ein Yoga-Ziel.
Netanyahu sieht das, und weil er es ausspricht, wird er gehasst.
Nicht, weil er Unrecht hat, sondern weil er der Spiegel ist, in dem Europa sich selbst erblickt – und das Gesicht nicht erkennt.
Das Geschäft mit der Betroffenheit
Europa ist die einzige Zivilisation, die ihre eigenen Tränen exportiert.
Man schickt keine Soldaten, keine Konsequenz, sondern Anteilnahme. Man erkennt Staaten an, weil man nicht in der Lage ist, sich selbst anzuerkennen – als machtpolitische Hülle, als postheroischer Schatten der Geschichte.
Und dann steht man da, mit ernster Miene, als säße man beim Friedensnobelpreis-Casting.
„Wir wollen Gerechtigkeit“, sagen sie.
Aber was sie wollen, ist: dass niemand merkt, dass sie nichts tun.
Es ist das Zeitalter des Empfindens ohne Denken. Der Satz „Wir dürfen nicht wegsehen“ wird gesagt, während man die Augen schließt.
Der Schuldkomplex als Staatsräson
Europa trägt seine Geschichte wie ein Talisman aus Blei. Die Vergangenheit lastet schwer, aber sie wird nicht verarbeitet, sondern aufgeführt.
Die Nachgeborenen spielen das moralische Theater der Buße mit professioneller Miene: immer betroffen, nie beteiligt.
Und jedes Mal, wenn Juden sterben, fühlt sich Europa wieder erinnert, dass es die moralische Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen hat – also eilt es, eine Geste zu setzen, um das schlechte Gewissen mit Haltung zu bekleiden.
Der Antisemitismus, der heute in Form des Antizionismus daherkommt, ist die Reinkarnation des alten europäischen Reflexes: den Juden zu richten, ohne ihm die Schuld auszusprechen.
Man nennt es „Kritik“, aber es ist die alte Lust, den moralisch Überlegenen zu spielen, diesmal unter der Flagge der Gerechtigkeit.
Der letzte Spiegel
Und so bleibt Netanyahu, dieser Zyniker wider Willen, als einziger Realist unter lauter Humanisten.
Er sieht, dass die westliche Moral ein Kostüm ist, das nur bei Tageslicht funktioniert.
Er weiß, dass die „Anerkennung“ Palästinas nicht den Frieden bringt, sondern den Beweis liefert, dass Gewalt lohnt.
Er weiß, dass Europas Werte exakt so lange gelten, wie sie nichts kosten.
Und er weiß, dass der Satz „Nie wieder“ in den Hauptstädten Europas längst zum Mantra des Selbstbetrugs geworden ist – ein leeres Echo, gesprochen in Konferenzsälen, deren Wände aus Glas sind, damit man die eigene Reinheit sehen kann.
Er hat recht.
Und das ist das Ungeheuerliche.
Denn nichts erschüttert den moralischen Narzissmus des Westens so sehr wie die Wahrheit, wenn sie aus dem Mund des Falschen kommt.