Der sanfte Käfig – Über das Panoptikum der modernen Welt

Es war einmal ein Philosoph, der träumte von einem Gefängnis, das niemand mehr verlassen will. Ein Ort, an dem die Mauern durchsichtiger sind als Glas, die Wärter unsichtbarer als Götter, und der Gefangene sich selbst bewacht. Jeremy Bentham hieß der Mann, der diesen grotesken Entwurf in die Welt setzte – und wie alle großen Denker scheiterte er am Unwillen der Praxis, seinen Plan umzusetzen. Schade eigentlich, könnte man meinen, doch nur auf den ersten Blick. Denn was damals auf dem Reißbrett blieb, ist heute gelebte Realität, nur mit hübscherer Benutzeroberfläche, WLAN und bunten Icons.

Die Welt ist ein Panoptikum geworden, aber nicht das muffige Gefängnis, das Bentham in feuchten Kellern skizzierte. Nein, es ist ein Designer-Panoptikum mit Selbstoptimierungszwang, GPS-Ortung, Gesichtserkennung, Gesundheits-Apps und personalisierter Werbung. Die Gitterstäbe sind Selfies, Likes und Fitness-Tracker. Der Wachtturm ist ein Algorithmus, und der Wärter? Der ist in den Serverfarmen dieser Welt längst zum Code geworden – kalt, effizient, nie müde, nie abgelenkt. Der Mensch hingegen ist heute nicht mehr Häftling wider Willen, sondern stolzer Teilnehmer an der Selbstüberwachung – freiwillig, euphorisch, statusgeil.

Die Angst der Macht vor der Unordnung – und die Sehnsucht nach dem Algorithmus

Die Geschichte der Überwachung ist eine Geschichte der Angst. Mächtige hassen nichts mehr als Unvorhersehbarkeit. Unordnung riecht für sie nach Revolution, Revolte, Randale. Die politisch Unordnung ist der Albtraum derer, die am liebsten alles unter Kontrolle hätten – oder zumindest so tun, als könnten sie es haben.

Michel Foucault hat das längst seziert: Der Staat überwacht nicht aus Sadismus, sondern aus Panik. Der militärische Reflex ist der Maßstab allen Handelns: präventiv zuschlagen, bevor überhaupt jemand den Gedanken an Widerstand fasst. Der Bürger soll nicht aufbegehren, sondern sich selbst befragen: Habe ich heute schon genug gespurt? Bin ich noch im Soll? Ist mein Profilbild regelkonform? Wer sich selbst kontrolliert, spart den Regierenden die Mühe – eine Win-Win-Situation für das System, das den Menschen zwar Freiheit verspricht, ihn aber zugleich in digitalen Fesseln hält.

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Der Panoptismus ist dabei nicht mehr das plumpe Abhören von Telefonen oder das Stalken auf Facebook. Das ist Folklore. Der moderne Überwachungsstaat ist smarter: Er kennt die Datenströme, bevor der Bürger selbst sie erfasst hat. Er berechnet Wahrscheinlichkeiten, Modelle, Muster. Er weiß, was Sie wollen, bevor Sie es googeln. Er weiß, was Sie kaufen werden, bevor Sie das Geld aus der Tasche ziehen. Und weil Sie nichts zu verbergen haben, glauben Sie, dass Sie nichts zu befürchten haben. Das ist der größte Trick der Macht: Sie hat Ihnen eingeredet, dass sie zu Ihrem Besten existiert.

Der Bürger als selbstverwaltetes Sicherheitsrisiko

Wer heute über den Überwachungsstaat klagt, wirkt wie ein analoger Romantiker. Die Mehrheit hat Besseres zu tun: Urlaubsbilder posten, den Puls auf der Smartwatch messen, die Steuererklärung per App erledigen. Datenschutz ist ein nostalgisches Hobby für Philosophie-Professoren, die in Zeitungen schreiben, die niemand mehr liest.

Die Sorge um die eigene Privatsphäre wird längst überlagert vom hysterischen Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Wer heute offline ist, existiert nicht. Wer nicht postet, ist verdächtig. Wer nicht teilt, hat was zu verbergen.

Dabei hat sich die Überwachung perfektioniert, indem sie demokratisch geworden ist: Jeder darf mitmachen. Jeder kann andere ausspionieren. Die Nachbarn, die Kollegen, den Ex-Partner. Sie brauchen keinen Geheimdienst mehr, es reicht ein Instagram-Account. Der Überwachungsturm steht längst nicht mehr in der Mitte des Kreises, er ist überall – in Ihrer Hosentasche, auf Ihrem Nachttisch, in der Cloud.

Und das Beste daran: Der Mensch ist nicht mehr Opfer der Überwachung, sondern Komplize. Er liefert seine Daten nicht unter Zwang, sondern mit einem Lächeln. «Hier bitte, mein Standort, meine Vorlieben, meine Schlafenszeiten, meine politische Meinung, meine sexuellen Präferenzen – macht was draus!»

Der Dilettantismus der Macht – oder: Warum Überwachung trotzdem scheitert

Natürlich gibt es Kritiker, die auf den dilettantischen Umgang der Mächtigen mit ihren Datenbergen hinweisen. Die NSA konnte 9/11 nicht verhindern, der Verfassungsschutz übersah den NSU, und während künstliche Intelligenzen Milliarden von Profilen auswerten, wird der nächste Anschlag vermutlich per Brieftaube geplant.

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Doch das ist der falsche Maßstab. Überwachung will nicht Terror verhindern – das wäre ja ein konkretes Ziel. Nein, sie will Atmosphäre erzeugen: den dumpfen Eindruck, dass man jederzeit gesehen werden könnte. Das reicht. Ob wirklich jemand hinsieht, spielt keine Rolle. Der Bürger passt sich schon im Voraus an. Der Terror der Möglichkeiten ist effektiver als der Terror der Tatsachen.

Die große Kunst der Macht ist es, Unschärfe zu kultivieren. Der perfekte Überwachungsapparat muss nicht funktionieren – er muss nur wirken. Ein Verschwörungstheoretiker ist der Traum des Geheimdienstes: Er erledigt die Einschüchterung ganz von selbst.

Von der demokratischen Kuscheldiktatur zur algorithmischen Autokratie

Noch funktioniert das alles relativ harmlos. Zumindest bei uns. Noch. Denn was heute als Lifestyle daherkommt, wird morgen als Zwang empfunden werden. Was heute als Komfort verkauft wird, kann in der nächsten Krise zur Falle werden. Die digitale Infrastruktur des Wohlstands ist auch die Infrastruktur der Repression – man muss nur den Schalter umlegen.

Die chinesischen Sozialkreditsysteme zeigen, wohin die Reise gehen kann: Punkte sammeln für regierungskonformes Verhalten, Minuspunkte für kritische Äußerungen. Bei uns lacht man noch darüber. Man vertraut auf den Rechtsstaat, auf demokratische Kontrollinstanzen. Doch der Algorithmus kennt keine Staatsform. Er ist immer bereit, dem nächsten Machthaber zu dienen – egal ob liberal oder autoritär.

Das panoptische System ist neutral, effizient, emotionslos. Es liebt keine Freiheit, es hasst keinen Widerstand – es will nur optimieren. Und der Mensch, dieser hoffnungslose Anpassungskünstler, wird mitmachen. Immer. Vielleicht wird er murren, ein bisschen protestieren, ein Meme posten. Aber am Ende wird er sein Gesicht freiwillig der nächsten Gesichtserkennungssoftware hinhalten, weil es schneller geht.

Der Schluss, den keiner hören will

Was also tun? Das ist die falsche Frage. Es wird nichts getan. Es gibt kein Zurück. Das Panoptikum ist gebaut – nicht aus Beton, sondern aus Bits. Die Fenster sind offen, das Licht ist an, der Wärter bleibt unsichtbar. Der Mensch sitzt in seiner Zelle und lächelt in die Kamera.

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Er nennt es Fortschritt.

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