Der sanfte Irrtum der Naiven

Bis vor kurzem dachte ich noch, wir werden von Idioten regiert. Ich muss mich korrigieren. Wir werden von skrupellosen Wahnsinnigen regiert.

Lange Zeit lebte ich in jenem behaglichen Irrtum, der den kritischen Zeitgenossen sanft umschmeichelt wie die schützende Umarmung einer bröckelnden Mutterbrust: Die da oben wissen es einfach nicht besser. Ach, hätten sie nur ein paar Bücher gelesen, ein wenig Grips in den hohlen Köpfen, ein bisschen moralische Integrität zwischen den Lenden – wir alle lebten in einer wohltemperierten Demokratie, in der Rationalität und Gemeinwohl gemeinsam im Sonnenstuhl lümmeln. Der dumme Politiker als tragikomische Figur, ein Clown mit Kravatte, der sich rührend müht, aber eben nicht ganz mit den besten Waffen des Geistes ausgestattet ist. Man könnte fast Mitleid haben.

Aber was, wenn sie gar nicht dumm sind? Was, wenn die Unfähigkeit, die wir ihnen so gönnerhaft attestieren, in Wahrheit der perfekte Vorwand ist, um nicht von ihrem wahren Charakter abzulenken? Der Idiot kann wenigstens noch bedauert werden. Der Wahnsinnige hingegen verfolgt einen Plan.

Die neue Avantgarde der Kaltblütigen

Die politischen Eliten unserer Zeit sind keine Trottel, sie sind strategische Nihilisten. Ihnen fehlt nicht die Intelligenz, ihnen fehlt der moralische Kompass – und das ist kein Defekt, sondern eine bewusste Entscheidung. In einer Welt, die sich längst von der Vorstellung verabschiedet hat, dass Wahrheit, Anstand oder gar Gemeinsinn irgendeine Rolle spielen könnten, regiert nicht mehr der kluge Pragmatiker oder der visionäre Reformer. Nein, das Zeitalter gehört den eiskalten Soziopathen mit PowerPoint-Folien.

Das sieht man an der rhetorischen Architektur ihrer Lügen: Jeder Satz sorgfältig so formuliert, dass er nur gerade genug Wahrheit enthält, um den naiven Beobachter zu betören, während die eigentliche Botschaft sich in einem Nebel aus PR-Sprech und pseudointellektueller Floskelästhetik verflüchtigt. Es sind die Tonalitäten der Verachtung, in denen diese Leute kommunizieren: Das gönnerhafte Lächeln eines Pressesprechers, der gerade zum 38. Mal erklärt, warum Milliarden für Waffenlieferungen alternativlos sind, während die Rentnerin sich am Pfandautomaten die monatliche Proteinration zusammensammelt.

TIP:  Antisemitismus als Staatsräson

Die große Simulation

Die westliche Demokratie, so wie sie sich uns heute darbietet, ist eine täuschend echt simulierte Ruine. Die Fassaden stehen noch, aber dahinter wuchert der Pilz des autoritären Kontrollstaats. Alles wird öffentlich verhandelt, aber nichts wird entschieden. Wahlkämpfe sind Werbekampagnen ohne Produkt. Parlamente sind Theaterbühnen, auf denen die Abgeordneten mit jener stoischen Würde das Nichts beschließen, als handle es sich um metaphysische Offenbarungen.

Die Inszenierung ist perfekt: Die Zeitungen veröffentlichen pflichtschuldigst die Debattenprotokolle, die Talkshows veranstalten ihre rituellen Empörungskabarette, und das Wahlvolk bekommt pünktlich alle vier Jahre einen feuchten Stimmzettel in die Hand gedrückt – eine sakrale Geste, die uns glauben machen soll, wir hätten an diesem Spektakel tatsächlich Anteil.

Zynismus als Bürgerpflicht

Was bleibt dem denkenden Menschen da noch übrig, außer in gepflegten Zynismus zu verfallen? Vielleicht sollten wir nicht mehr in Protest, sondern in Parodie machen. Wählen gehen als Akt der ironischen Selbstbeschmutzung, Steuern zahlen als kabarettistischer Beitrag zur globalen Geldwäsche, Medien konsumieren als avantgardistische Performance des freiwilligen Verblödens.

Vielleicht ist der Zyniker heute der letzte wahrhaft freie Bürger: einer, der sich an der Absurdität des Systems ergötzt, ohne sich noch einzubilden, er könnte es verändern. Denn wer noch ernsthaft hofft, die Wahnsinnigen mit Argumenten bekehren zu können, gleicht dem Mann, der dem hungrigen Wolf das vegetarische Menü empfiehlt.

Die hohe Kunst des gepflegten Untergangs

Es bleibt uns also nur die noble Aufgabe, unseren eigenen Untergang mit Stil zu inszenieren. Wenn wir schon untergehen, dann bitte mit einem Whiskyglas in der Hand und einem sardonischen Grinsen auf den Lippen. Lassen wir uns nicht mehr täuschen von der Illusion, dass diese Welt noch in irgendeinem rationalen Sinn zu retten sei. Der Zug ist abgefahren, das Bordbistro serviert lauwarmen Champagner, und im Führerstand sitzen keine Idioten.

Es sind Wahnsinnige.

Aber sie wissen genau, was sie tun.

Please follow and like us:
Pin Share