oder: Wie man ein Leben so glatt schleift, dass es keine Reibung mehr hat
Man stelle sich vor, das Leben wäre ein einziger Bewerbungsprozess. Nicht ein gewöhnlicher, nein – einer von jenen, bei denen der Personaler ein Auge wie ein Scharfschützenvisier hat und die zweite Pupille längst durch ein Excel-Sheet ersetzt wurde. Ein Leben, das so tadellos optimiert ist, dass es schon beim bloßen Anblick im PDF-Format nach frischem Laserdruck riecht. Und damit niemand aus Versehen in seiner Biografie über die eigenen Füße stolpert oder, Gott bewahre, individuelle Entscheidungen trifft, gibt es ihn: den perfekten Lebenslauf. Ein Curriculum Vitae wie aus dem industriellen Reinraum, steril, standardisiert, genormt – DIN-Leben 0815, Ausgabe Fassung 3000.
0–6: Kindergarten – die erste Bewährungsprobe im Hamsterrad
Natürlich beginnt das Drama im Kindergarten, diesem farbenfrohen Vorraum zur gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit, wo pädagogisch wertvolle Holzklötze bereits den soliden Grundstein jeder späteren Frustration legen. Hier, in der Kita, lernt der Mensch das Fundament all dessen, was er später für seine Karriere benötigt: das Teilen (das Gehalt mit dem Staat), das Still-sitzen (in Meetings), das Warten (auf die Rente) und das diskrete Ausmalen vorgezeichneter Linien – die wichtigste Fähigkeit, um sich selbst nie außerhalb gesellschaftlich genehmigter Bahnen zu entwickeln.
Wem es nicht gelingt, mit fünf Jahren schon die Bastelschere wie ein kleiner CFO zu halten, der bekommt einen „Förderhinweis“, was im Grunde nur bedeutet: „Dieses Kind ist verdächtig individuell – Vorsicht.“
6–16: Schule, die pädagogische Langzeitmarinade – kleine Nebenjobs zur frühen Charakterhärtung inklusive
Danach folgt die Schule, jene zehnjährige Dauerbelastungsübung, die man rückblickend gern mit Kriegsmetaphern beschreibt, während sie im Moment selbst eher an ein etwas zu langes Theaterstück erinnert, in dem man gegen seinen Willen zur Hauptrolle verdammt wurde. Die Schule ist der Ort, an dem man lernt, dass Leistung zwar zählt – aber nur dann, wenn sie exakt zur Prüfungsvorgabe passt; dass Kreativität gefeiert wird – solange sie in den Erwartungshorizont passt; und dass der Mensch im Grunde nur ein wandelnder Notenspiegel ist, der am Ende des Jahres für die Abschlussstatistik poliert wird.
Doch der perfekte Lebenslauf verlangt mehr. Neben der schulischen Dauerbeobachtung gehört auch ein Nebentätigkeitskatalog, der beweist, dass man als Elfjähriger bereits wirtschaftlich verwertbar ist. Zeitungen austragen – hervorragend, das formt den Charakter, insbesondere an Sonntagen, wenn man um sechs Uhr morgens durch den Regen stapft und lernt, dass das Leben ein einziger Nieselregen ist, gegen den es keinen Schirm gibt.
Und dann natürlich: die Kohlemine. Keine glaubwürdige Karriere ohne frühe Untertageerfahrung. Es stärkt den Rücken, die Lunge und die Narrative: „Schon mit 14 habe ich hart gearbeitet“ – Sätze, die später im Vorstellungsgespräch so zuverlässig wirken wie ein Sedativum.
16–18: Ausbildung – Rheinmetall oder VW, Hauptsache systemrelevant
Die Ausbildung ist im perfekten Lebenslauf kein optionales Ornament, sondern der erste echte Ritterschlag der Transformationsbiografie. Und natürlich sollte sie bei einem jener Unternehmen stattfinden, die so tief in der deutschen Industriegeschichte verankert sind, dass sie bei Erwähnung automatisch eine Mischung aus Respekt, Skepsis und mentalem Dieseldunst hervorrufen: Rheinmetall – die Basisausbildung im Umgang mit Geräten, die Lärm machen und Dinge kaputt –, oder VW – die Basisausbildung im Umgang mit Geräten, die leise tun, als würden sie nichts kaputt machen.
Sich für eines der beiden zu entscheiden ist im Grunde die Frage, ob man eher für die Verteidigung der westlichen Welt einsteht oder für das Abgasmanagement. In beiden Fällen hat man später beim Bier eine verlässliche Anekdote parat.
18–24: Bundeswehr – die Phase, in der der Mensch endgültig zum Zahnrad wird
Dann folgt die Bundeswehr. Sechs Jahre Pflichtprogramm für alle, die im Lebenslauf den Todesstoß jeglicher Individualität brauchen. Der Wehrdienst ist die staatliche Garantie dafür, dass man spätestens mit 24 nicht mehr „Ich“ sagt, sondern „man“, „wir“, oder im Optimalfall gar nichts, weil man gelernt hat, dass das Schweigen oft die effizienteste Antwort ist.
Die Bundeswehr ist auch der Ort, an dem man begreift, dass körperliche Fitness, geputzte Stiefel und die Fähigkeit, 40 Minuten reglos auf den Befehl „Rühren!“ zu warten, als Qualifikation ausreichen, um sich dem Arbeitsmarkt würdig zu zeigen. Und hat man erst einmal verstanden, wie man ein Bett so baut, dass selbst ein General darin weinen könnte – dann ist man bereit für die freie Wirtschaft.
24–84: Vollzeitjob – der große Block produktiv verbrachter Existenz
Ab 24 beginnt die große Gerade: 60 Jahre Vollzeitjob. Keine Experimente. Keine Sabbaticals. Keine Sinnkrisen. Der perfekte Lebenslauf ist kein Abenteuerspielplatz. Er ist ein Fließband, und zwar eines, auf dem man selbst liegt, während man sich simultan antreibt.
Dies ist die Phase des Lebens, die man später auf Geburtstagsfeiern mit abwechselndem Stolz und Resignation zusammenfasst: „Ich war nie einen Tag arbeitslos.“ Ein Satz, der wie ein Orden klingt, sich aber anfühlt wie eine Fußfessel.
60 Jahre Vollzeitjob bedeuten auch: Man erlebt den technologischen Wandel gleich zweimal. Erst lernt man ihn, dann hasst man ihn, dann ignoriert man ihn – und am Ende erklärt man jüngeren Kolleginnen und Kollegen, dass früher alles besser war, obwohl man selbst kaum noch weiß, was früher überhaupt war.
Tag des Renteneintritts: mit 1800 Tagen Resturlaub sterben – das große Finale der Effizienz
Der finale Akt des perfekten Lebenslaufs ist die Vollendung höchster deutscher Tugend: restlose Selbstausbeutung. Der ideale Arbeitnehmer stirbt am Tag seines Renteneintritts – aber nicht einfach so, nein: mit 1800 Tagen Resturlaub. Dieser Urlaub, der sich wie eine posthume Ehrung liest, ist der Beweis, dass man nie Zeit verschwendet hat, nie innegehalten hat, nie der Illusion erlag, das Leben könne mehr sein als ein Pflichtenkatalog.
1800 Tage ungenutzter Urlaub – fünf Jahre. Fünf Jahre, die man nicht gelebt hat, weil man zu beschäftigt damit war, ein makelloses Arbeitswesen zu sein. In der Differenz zwischen möglichem Leben und gelebtem Leben zeigt sich die wahre Leistungsbereitschaft: Man war bis zuletzt ein verwertbarer Bestandteil des Betriebs und hat sich erst dann verabschiedet, als man sicher sein konnte, dass das System einen nicht mehr braucht.
Und genau das ist es, was den perfekten Lebenslauf ausmacht: Er ist so perfekt, dass er ein Leben vollständig ersetzt.