Der Opfermut-Industriekomplex

Präludium der Pietät: Wenn der Krieg ins Wohnzimmer klopft

Manchmal öffnet sich das Fenster zur Hölle nicht mit Panzern, sondern mit Interviews. Auf 3sat, jenem Kanal, der sonst mit Beethoven-Sonaten, Astrophysik-Dokus und der neuesten Kafka-Interpretation die Bildungsbürger zum Einschlafen bringt, wurde jüngst das Tor aufgestoßen für eine viel fundamentalere Debatte: die der Opferbereitschaft. Nicht für den Nächsten, nicht für das Gemeinwohl im Sinne der Wohlfahrtspflege oder der Nachbarschaftshilfe. Nein, für den Krieg.

Der Historiker Egon Flaig, offenbar der Hofchronist der neuen Bellizistenklasse, beklagte im Fernsehen öffentlich die Unwilligkeit der Eltern, ihre Kinder als Soldaten zu sehen – als zukünftige tote Soldaten, präziser gesagt. Ein bitteres Lamento über mangelnden Opfermut. Über verweichlichte Eltern, die partout nicht bereit sind, ihre Brut dem Kugelhagel anzuvertrauen, damit diese dort am Frontabschnitt X für das sogenannte Gemeinwesen bluten, wahlweise sterben.

Man müsse, so Flaig, endlich Schluss machen mit diesem „jahrzehntelangen Pazifismus“, der die Gesellschaft lethargisch und moralisch verkommen habe lassen. Die Lösung? Eine kulturelle Umprogrammierung. Wie beim Thermostat: auf kalt stellen. Herz ausschalten, Gewehr sichern.

Die neue Menschenopferkultur: Ein Upgrade aus der Mottenkiste der Geschichte

Da reibt man sich als Zeitgenosse die müden Augen: Ein Historiker will das Kinderopfer zurück. Nicht in Karthago, nicht im alten Sparta, sondern im Jahr 2025, im deutschen Fernsehen.

Natürlich nicht als religiösen Ritus – nein, viel moderner soll es sein, aufgeklärt quasi, mit didaktischer Begleitbroschüre und PowerPoint-Präsentation. „Eltern, lernt eure Kinder loszulassen“, so könnte das Seminar heißen. Untertitel: „Heldentum statt Helikoptereltern“.

Dass die alten Götter nach Blut schrien, ist bekannt. Baal forderte Erstgeborene, die Azteken versorgten Huitzilopochtli täglich mit Menschenherzen. Und nun also Flaig, der sich vermutlich bei Tacitus und Clausewitz warmgelesen hat und dabei übersah, dass wir seit dem Zweiten Weltkrieg dachten, wir seien wenigstens in Mitteleuropa aus dem Schlachthaus der Geschichte ausgestiegen. Dachten wir. Irrtum.

Offenbar wird das Menschenopfer neu ins Sortiment aufgenommen. Der Markt verlangt es.

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Der Krieg als Coachingprogramm: Vom Soft Skill zum Hard Kill

Natürlich geschieht das alles mit dem schönsten Euphemismus-Feuerwerk, das die deutsche Sprache hergibt. „Gemeinwohl“, „Verantwortung“, „Tapferkeit“ – es klingt wie eine Mischung aus Bundeswehr-Broschüre, Ratgeberliteratur für Führungskräfte und Sonntagspredigt. Nur dass zwischen den Zeilen das Maschinengewehr lauert.

Der neue Opfermut ist eine Pflicht zur Selbstabschaffung – am besten der anderen, versteht sich. Und damit kommen wir zum eigentlichen Kern der Debatte: Die, die solche Töne anschlagen, sind in der Regel selbst aus dem Alter der Kriegsverwendbarkeit heraus. Der Altersdurchschnitt der Bellizisten-Clique liegt meist deutlich über dem der Wehrpflichtigen. Flaig selbst? Jahrgang 1949. Den Wehrdienst hat er, man darf es annehmen, erfolgreich überlebt – vermutlich, ohne den Atlantikwall gegen die Invasion verteidigen zu müssen. Umso fröhlicher verteilt er jetzt Einsatzbefehle in Talkshow-Studios.

Das nennt man dann „Diskurs“.

Vom Verteidigen zum Vernichten: Wie Sprache zur Waffe wird

Man sollte genauer hinsehen, wenn Begriffe wie „Verteidigung“ benutzt werden. Verteidigung ist so ein freundliches Wort. Es klingt nach Schutzschild, nach Heimatschutz, nach „Mama, der Wolf kommt, ich mach die Tür zu“. Doch in Wahrheit geht es um das Gegenteil: um Angriffskrieg mit moralischem Etikettenschwindel. Wer heute von Verteidigungsbereitschaft spricht, will Aufrüstung. Wer von Opfermut redet, meint Leichen.

Dabei ist es nicht so, dass Pazifismus ein Irrweg wäre. Pazifismus ist schlicht die zivilisatorische Restintelligenz, die nach den zwei Weltkriegen übriggeblieben ist. Wer ihn diskreditiert, will zurück auf Los. Nicht weil er es muss, sondern weil er es kann.

Das Geschäft mit dem Krieg: Shareholder der Waffenlobby klatschen Beifall

Die Waffenindustrie reibt sich die Hände. Rüstungskonzerne jubeln still in ihren Aktionärsberichten, wenn Professoren und Kommentatoren endlich wieder den Krieg als Notwendigkeit verkaufen. Der Satz „Schuld sei ein jahrzehntelanger Pazifismus“ ist der feuchte Traum jeder PR-Abteilung von Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann.

Das Marketing des Todes hat wieder Konjunktur. Die alten Muster werden neu lackiert: Die Kriegspropaganda des 21. Jahrhunderts kommt im Design-Sakko daher, mit Kulturphilosophie-Duktus, in arte-nahen Talkrunden. Sie trägt Lesebrille und ruft zum Töten auf – für das „Gemeinwesen“.

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Man könnte lachen, wenn es nicht so perfide wäre.

Die Alternative: Diplomatie als Feindbild

Was wäre denn eigentlich die Alternative? Ganz einfach: Reden. Verhandeln. Diplomatische Lösungen suchen. Verstehen wollen, warum Konflikte eskalieren. Sich die Mühe machen, Friedenslogik zu denken, anstatt Kriegslogik zu befeuern.

Doch das klingt heute wie von einem anderen Planeten. Wer Diplomatie fordert, wird wahlweise als „naiv“, „weltfremd“ oder gleich als „Putin-Versteher“ diffamiert. So einfach ist das. Wer nicht für den Krieg ist, ist gegen das Gute.

Dass es genau das Gegenteil braucht – ein entschiedenes Nein zur Aufrüstung, zu Waffenlieferungen, zur Wiedereinführung des Wehrdienstes –, wird als defätistisch, als unpatriotisch gebrandmarkt. Wer auf Frieden besteht, wird als Gesinnungspazifist beschimpft. Ein Schimpfwort, das es im Duden gar nicht geben sollte, aber in Talkshows inflationär benutzt wird.

Das Resümee: Der Krieg als letzte Antwort der Ideenlosen

Man muss es aussprechen: Wer Opfermut von Eltern fordert, der betreibt nicht Diskurs, sondern Demagogie. Er propagiert das Ende der Zivilisation im Namen ihrer Rettung. Ein Friedhof wird gebaut und als Tempel verkauft.

Die Idee vom „Opfer für das Gemeinwesen“ klingt heroisch, wenn man sie nicht zu Ende denkt. Wer sie zu Ende denkt, sieht Leichensäcke, gebrochene Mütter, amputierte Söhne. Wer sie zu Ende denkt, sieht Propaganda.

Es wird Zeit, sich klar zu positionieren: Nein zu Flaigs Opfermut. Nein zu einer kulturellen Umprogrammierung zurück in die Barbarei. Nein zur Normalisierung des Krieges als Notwendigkeit.

Was es braucht, ist nicht mehr Kriegsbereitschaft, sondern mehr Bereitschaft zum Frieden. Nicht mehr Waffen, sondern mehr Worte. Nicht mehr Helden, sondern mehr Menschen.

Und wenn das naiv klingt, dann sei es so. Lieber naiv als nekrophil.

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