David Betz, Professor für Kriegsforschung am King’s College London, vertritt die These, dass in mehreren westlichen Ländern künftig gewaltsame innere Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen wahrscheinlich, teils unvermeidlich sind. Ausgangspunkt seiner Analyse ist weniger ein einzelnes Ereignis als ein langfristiger Erosionsprozess westlicher Gesellschaften. Zentral sind für ihn drei miteinander verflochtene Entwicklungen: der Verlust politischer Legitimität, die Fragmentierung kollektiver Identität und der Zerfall sozialen Zusammenhalts.
Betz argumentiert, dass Legitimität nicht allein aus formaler Legalität entsteht, sondern aus der wahrgenommenen Übereinstimmung zwischen politischem Handeln und dem Willen der Wähler. Wenn breite Teile der Bevölkerung glauben, dass Wahlen folgenlos sind und politische Entscheidungen jenseits demokratischer Kontrolle getroffen werden, steigt die Bereitschaft, sich dem System zu entziehen oder es aktiv herauszufordern. Der Brexit-Prozess markiert für ihn einen Wendepunkt, weil hier sichtbar wurde, wie politische Eliten ein demokratisches Mandat relativierten und damit ihre eigene Legitimität untergruben.
Zukünftige Konflikte beschreibt Betz weniger als klassische Bürgerkriege mit klaren Fronten, sondern als langwierige, fragmentierte Aufstandsprozesse: paramilitärische Gruppen, ethnisch oder kulturell definierte Enklaven, ein Staat, der nur noch punktuell Kontrolle ausübt. Zwei Hauptvektoren treiben diese Entwicklung an: erstens eine Revolte gegen kosmopolitische Eliten („Anywheres“) durch sesshafte Bevölkerungsgruppen („Somewheres“), zweitens identitäre Polarisierung, verstärkt durch Masseneinwanderung und Multikulturalismus.
Betz stützt sich unter anderem auf die Forschung zum Sozialkapital (Robert Putnam) und auf Bürgerkriegsforschung (Barbara Walter). Er sieht keinen realistischen politischen Ausweg innerhalb der bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen, da systemkritische Parteien juristisch, administrativ oder politisch blockiert würden. Besonders gefährdet hält er Länder wie Frankreich, Großbritannien und Irland.
Die Provokation der Nüchternheit
Die eigentliche Zumutung von David Betz’ Diagnose liegt nicht in ihrer Drastik, sondern in ihrer Tonlage. Er ruft nicht zum Umsturz auf, er warnt nicht mit erhobenem Zeigefinger, er schreit nicht. Er erklärt. Und gerade diese ruhige, fast bürokratische Sprache verleiht seiner These Sprengkraft. Wenn ein Aufstandsforscher feststellt, ein Bürgerkrieg könne unvermeidlich werden, klingt das weniger nach Ideologie als nach Befund. Betz präsentiert den westlichen Gesellschaften keinen Untergangsmythos, sondern eine Art Schadensbericht über ein politisches System, das seine eigenen Grundlagen aufgezehrt hat.
Legitimität als unsichtbare Infrastruktur
Im Zentrum von Betz’ Analyse steht der Begriff der Legitimität. Sie ist für ihn keine juristische Formalie, sondern eine fragile psychopolitische Ressource. Staaten funktionieren nicht primär durch Zwang, sondern durch Zustimmung. Diese Zustimmung speist sich aus der Überzeugung, dass politische Institutionen den geäußerten Präferenzen der Bürger zumindest prinzipiell Rechnung tragen. Geht dieser Glaube verloren, steigen die Kosten des Regierens exponentiell.
Der Westen, so Betz, leidet unter einer tiefen Legitimitätskrise. Wahlen werden als symbolische Rituale wahrgenommen, reale Entscheidungen scheinen vorab in elitären, transnationalen oder technokratischen Räumen getroffen zu werden. Die Politik erscheint als Theater ohne Konsequenzen. In der Aufstandsforschung gilt genau diese Wahrnehmung als klassischer Nährboden für systemfeindliche Mobilisierung.
Brexit als Symptom, nicht als Ursache
Der Brexit fungiert in Betz’ Denken als Brennglas. Nicht das Referendum selbst, sondern der anschließende Umgang der politischen Klasse mit dessen Ergebnis erschütterte für ihn das Vertrauen in die demokratische Ordnung. Der Versuch, das Votum zu verzögern, umzudeuten oder faktisch zu neutralisieren, wurde von vielen Bürgern als Missachtung ihres politischen Willens empfunden.
Hier zeigt sich ein zentrales Motiv: Eliten, die sich als rationaler, moralischer oder aufgeklärter begreifen als die Wähler, sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Die Absicht mag stabilisierend gewesen sein, die Wirkung war delegitimierend. Für Betz ist dies kein britischer Sonderfall, sondern ein Muster westlicher Demokratien.
Der Bürgerkrieg des 21. Jahrhunderts
Betz’ Verständnis von Bürgerkrieg unterscheidet sich deutlich von historischen Bildern. Er erwartet keine klaren Fronten, sondern einen langwierigen Prozess niedriger bis mittlerer Intensität. Gewalt äußert sich in Anschlägen, lokalen Machtkämpfen, territorialen Fragmentierungen. Der Staat verliert schrittweise die Fähigkeit, Ordnung flächendeckend durchzusetzen, und beschränkt sich auf strategisch wichtige Zonen.
Diese Konflikte sind nicht punktuell, sondern progressiv. Sie entwickeln sich aus tieferliegenden sozialen Dynamiken, die lange unter der Oberfläche wirken. Wenn Gewalt offen ausbricht, ist der entscheidende Kipppunkt meist bereits überschritten.
Zwei Vektoren der Destabilisierung
Betz identifiziert zwei Hauptkräfte, die diesen Prozess antreiben. Der erste ist die Revolte gegen Eliten. Der Gegensatz zwischen „Somewheres“ und „Anywheres“ beschreibt eine kulturelle und soziale Spaltung: hier die lokal verwurzelten Mehrheiten, dort eine mobile, kosmopolitische Elite, die Institutionen dominiert und postnationale Ideale vertritt. Viele Bürger empfinden, dass diese Eliten den Gesellschaftsvertrag einseitig aufgekündigt haben.
Der zweite Vektor ist identitärer Natur. In Zeiten wachsender Unsicherheit suchen Menschen Schutz in kollektiven Zugehörigkeiten. Ethnische, religiöse und kulturelle Identitäten gewinnen an Bedeutung, während nationale Identität an Integrationskraft verliert. Die Folge sind Segregation, Parallelgesellschaften und eine Erosion des gemeinsamen sozialen Raums.
Multikulturalismus und der Verlust des sozialen Kapitals
Besonders kontrovers ist Betz’ Einschätzung des Multikulturalismus. Unter Rückgriff auf Robert Putnam argumentiert er, dass steigende ethnische Diversität kurzfristig das soziale Vertrauen schwächt. Weniger Vertrauen bedeutet weniger freiwilliges Engagement, mehr Angst, mehr Rückzug – klassische Vorbedingungen innerer Konflikte.
Die Hoffnung, dass sich langfristig neue Formen des Zusammenhalts entwickeln, habe sich bislang nicht erfüllt. Stattdessen beobachtet Betz einen beschleunigten Zerfall sozialer Kohäsion, insbesondere in urbanen Räumen. Was lange als Randkritik galt, sei inzwischen selbst im politischen Mainstream angekommen – oft jedoch ohne praktische Konsequenzen.
Narrative statt Führung
Ein weiterer zentraler Punkt ist Betz’ Analyse moderner Mobilisierung. Aufstände benötigen keine hierarchische Führung, sondern ein überzeugendes Narrativ. Ein gemeinsamer Deutungsrahmen reicht aus, um individuelles Handeln zu synchronisieren. Wird eine kollektive Kränkung als existenziell und absichtlich wahrgenommen, entsteht eine Eigendynamik, die sich staatlicher Kontrolle entzieht.
Der Glaube, dass ein Teil der Bevölkerung systematisch verdrängt oder ersetzt werde, wirkt dabei als mächtiger Mobilisator – unabhängig davon, ob man diese Wahrnehmung teilt oder nicht. Politisch relevant ist nicht ihre objektive Wahrheit, sondern ihre subjektive Verankerung.
Der fehlende politische Ausweg
Am düstersten ist Betz’ Ausblick. Er sieht kaum Möglichkeiten, den eingeschlagenen Kurs innerhalb der bestehenden politischen Regeln zu korrigieren. Systemkritische Parteien würden juristisch bekämpft, administrativ blockiert oder moralisch delegitimiert. Selbst ein Wahlsieg garantiere keine reale Gestaltungsmacht.
Damit entsteht ein Teufelskreis: Je stärker Veränderungen blockiert werden, desto plausibler erscheint außerinstitutioneller Widerstand. Der Staat verliert nicht nur Legitimität, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstkorrektur.
Schluss: Warnung oder Beschreibung?
David Betz liefert keine Prophezeiung im mystischen Sinn, sondern eine analytische Verdichtung zahlreicher sozialwissenschaftlicher Befunde. Sein Interview ist weniger ein Aufruf als ein Spiegel. Es konfrontiert westliche Gesellschaften mit der Möglichkeit, dass ihre größte Gefahr nicht von außen kommt, sondern aus der schleichenden Aushöhlung ihrer eigenen Grundlagen.
Ob man seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht: Die Fragen, die er stellt, lassen sich nicht länger als extremistisch oder randständig abtun. Sie betreffen den Kern moderner Demokratien – und die unbequeme Einsicht, dass Stabilität kein Naturzustand ist, sondern eine politische Leistung, die auch wieder verlernt werden kann.
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