von der Hyde Park Corner zur digitalen Fußfessel
Es gibt Nationen, die ihre Freiheit mit Pathos feiern, andere, die sie mit Blut verteidigen, und wieder andere, die sie so lange verwalten, bis niemand mehr genau weiß, wo sie eigentlich abgeblieben ist. Großbritannien gehört traditionell zur ersten Kategorie: Magna Carta, Habeas Corpus, Speaker’s Corner – die britische Selbstbeschreibung als Wiege der bürgerlichen Freiheit ist so tief eingeprägt wie der Geruch von feuchtem Tweed. Und doch hat sich, fast unbemerkt und mit der Höflichkeit eines gut erzogenen Butlers, etwas verschoben. Die Meinungsfreiheit ist nicht abgeschafft worden, nein, das wäre unbritisch. Sie ist vielmehr in eine Art Dauerbewährung versetzt worden: Man darf alles sagen – solange es niemanden stört, niemand es missversteht, niemand es meldet und solange ein Polizist im Zweifel nicht der Meinung ist, man hätte es besser lassen sollen. Dass die Polizei mittlerweile mit bemerkenswertem Eifer selbst gegen weitestgehend harmlose, oft explizit nicht strafbare Äußerungen vorgeht, ist dabei weniger der Skandal als das Symptom. Die eigentliche Frage lautet: Wie konnte eine Gesellschaft, die einst das Recht auf Unbequemlichkeit als zivilisatorische Tugend verstand, so weit kommen, dass sie Beleidigtsein zur ordnungspolitischen Kategorie erhebt?
Die Ausdehnung des Guten bis zur Erstickung
Der britische Staat hat ein Problem, das viele spätmoderne Demokratien kennen: Er will gut sein. Nicht nur rechtsstaatlich korrekt, sondern moralisch einwandfrei, empathisch, sensibel, inklusiv – ein Staat mit Soft Skills. Diese moralische Aufrüstung hat einen paradoxen Effekt: Je mehr man schützen will, desto größer wird der Kreis dessen, was potenziell schützenswert verletzt werden könnte. Worte werden zu Mikroaggressionen, Meinungen zu potenziellen Gefährdungslagen, Ironie zu einer Form semantischer Umweltverschmutzung. Die Polizei, traditionell Hüterin von Ordnung und Gesetz, wird so unmerklich zur Hüterin des guten Tons umfunktioniert. Sie registriert Vorfälle, führt sogenannte „Non-Crime Hate Incidents“, also Ereignisse ohne Straftatbestand, aber mit schlechtem Gefühl. Dass eine solche Kategorie existiert, ist bereits ein literarischer Akt von kafkaesker Eleganz: ein Protokoll über etwas, das offiziell nichts ist, aber trotzdem Folgen haben kann. Der Staat lernt hier nicht, weniger einzugreifen, sondern subtiler. Er verhaftet nicht – er notiert. Er verbietet nicht – er ermahnt. Und weil all das im Namen des Guten geschieht, wirkt jeder Widerspruch wie moralische Fahrlässigkeit.
Polizei als Pädagoge und Therapeut
Was früher der Dorfpfarrer oder der gestrenge Onkel beim Sonntagsessen übernahm, erledigt heute der Streifenwagen: moralische Nachhilfe. Polizisten klingeln nicht mehr nur, wenn ein Einbruch gemeldet wurde, sondern auch, wenn jemand im Internet etwas gesagt hat, das jemand anderem missfallen könnte. Oft endet das Gespräch ohne Anzeige, ohne Verfahren, ohne Urteil – aber nicht ohne Wirkung. Denn die Botschaft ist klar: Wir haben dich gesehen. Wir wissen, was du denkst. Und wir möchten, dass du in Zukunft besser darüber nachdenkst, ob du es auch sagst. Diese Praxis ist juristisch oft einwandfrei, politisch bequem und psychologisch verheerend. Sie erzeugt genau das, was man früher „chilling effect“ nannte: eine Kälte, die sich über den öffentlichen Diskurs legt und spontane Meinungsäußerung in vorsorgliches Schweigen verwandelt. Die Polizei wird dabei nicht zum Tyrannen, sondern zum Sozialarbeiter mit Bodycam – und gerade das macht sie so effektiv. Wer will schon der Mensch sein, der nach einem „freundlichen Hinweis“ der Polizei trotzig auf Meinungsfreiheit pocht? Das wirkt schnell so unsympathisch wie jemand, der laut hustend behauptet, sein Gegenüber überreagiere.
Die Angst vor dem Chaos und die Sehnsucht nach Ruhe
Hinter all dem steht eine tiefe gesellschaftliche Erschöpfung. Großbritannien ist müde: von Klassenkonflikten, von Identitätsdebatten, von kulturellen Brüchen, von der eigenen Geschichte. In dieser Müdigkeit erscheint Meinungsfreiheit nicht mehr als belebender Streit, sondern als Lärm. Und Lärm möchte man regulieren. Die Polizei wird so zum Instrument einer kollektiven Sehnsucht nach Ruhe, nach Harmonie, nach einem öffentlichen Raum ohne Reibung. Dass Reibung der Motor jeder lebendigen Demokratie ist, gerät dabei aus dem Blick. Stattdessen wird Dissens als Risiko begriffen, als etwas, das eskalieren könnte, wenn man es nicht frühzeitig einfängt. Also fängt man nicht Taten ein, sondern Stimmungen. Man kontrolliert nicht Gewalt, sondern mögliche Kränkungen. Der Schritt von dort zur präventiven Erziehung der Bevölkerung ist klein – und wird kaum bemerkt, weil er nicht mit Stiefeln, sondern mit Formularen kommt.
Satirisches Nachwort aus dem Land der leisen Sirenen
Vielleicht ist das britische Modell der eingeschränkten Meinungsfreiheit gar kein Ausrutscher, sondern ein Exportartikel der Zukunft: autoritär ohne Autoritarismus, repressiv ohne Repression, freiheitlich im Prospekt und betreut in der Praxis. Ein System, in dem man alles sagen darf, aber nicht alles sollte, und in dem die Polizei freundlich daran erinnert, was man besser nicht denkt, wenn man seine Ruhe haben will. Die Ironie ist bitter und zugleich typisch britisch: Ausgerechnet das Land, das der Welt den Begriff der „liberty“ geschenkt hat, verwaltet sie nun wie eine empfindliche Antiquität – schön anzusehen, aber bitte nicht anfassen. Und so sinkt die Meinungsfreiheit nicht mit einem Knall, sondern mit einem höflichen Räuspern. Man entschuldigt sich sogar dabei. Was bleibt, ist die leise Frage, ob Freiheit, die man nur noch flüsternd genießen darf, ihren Namen überhaupt noch verdient.