
Es gibt einen Punkt, an dem jede Gesellschaft kollektiv in den Wahnsinn kippt – nicht plötzlich, nicht dramatisch, sondern schleichend, wie eine Einweisung mit Anstand. Zuerst wird nur ein bisschen die Stimme erhoben, dann werden Vokabeln gewechselt („Verteidigungsfall“ statt „Krieg“, „Mobilisierung“ statt „Menschenschlachtung“), dann redet jemand von Verantwortung. Und ehe man sich versieht, rechnet ein CDU-Politiker ganz nüchtern mit fünftausend Gefallenen – am Tag, wohlgemerkt, nicht im Monat, nicht in einem schlecht geschriebenen Historienroman, sondern in einem Interview. Als wäre es ein Bauprojekt. Als plane man eine neue ICE-Strecke und müsse halt mit ein paar Kollateralschäden rechnen. Fünftausend – das ist eine Kleinstadt, eine Großveranstaltung, ein Stadionblock. Und sie sollen fallen – täglich –, damit irgendetwas irgendwo verteidigt wird, das man kaum noch greifen kann, weil längst die Grenzen zwischen Realität, Wahn und geopolitischem Pathos verschwimmen.
Vom Wellenbrecher zur Menschenwelle: Die Psychodynamik der Dauerhysterie
Was mit Corona begann – und da sprechen wir nicht vom Virus, sondern von der affektiven Dauerpanik im Managementsystem des Politischen –, das findet nun seine Fortsetzung in der nächsten „historischen Herausforderung“. Man könnte fast meinen, das politische Establishment ist süchtig nach Ausnahmezustand: ein bisschen Virus, ein bisschen Ukraine, demnächst vielleicht noch eine Alien-Invasion. Hauptsache, der Bürger bleibt in Habachtstellung, zwischen Impftermin, Sirenenprobe und digitalem Wehrdienstformular.
In diesem Kontext erscheint Patrick Sensburgs Zahlenspiel wie die mathematische Fortsetzung eines kollektiven Kontrollverlusts: Wenn schon keine Kontrolle mehr über Inflation, Energiepreise oder Migration – dann wenigstens über den Tod. Fünftausend am Tag. Klare Rechnung, saubere Statistik. Da hat der Bürokrat in der Tarnuniform endlich wieder einen Plan. Nur dumm, dass der Plan Menschenleben kostet – nicht hypothetisch, nicht am Reißbrett, sondern ganz real, mit Schrapnell im Bauch und Brief an die Hinterbliebenen. Und niemand fragt ernsthaft: Was zur Hölle geht eigentlich in diesen Köpfen vor?
Aufrüstung als Ersatzreligion – Ein Sakrament aus Stahl
Man kennt es aus dystopischen Romanen: Wenn der Sinn zerbricht, wird die Rüstung zur Religion. Und was früher die Hostie war, ist heute der NATO-Standard. In einer Gesellschaft, der jedes metaphysische Koordinatensystem abhandengekommen ist, wird die Kriegsbereitschaft zum letzten Dogma. Der Glaube an den Frieden? Naiv. Diplomatie? Feigheit. Wer heute noch mit dem Begriff „Verhandlung“ ankommt, wird behandelt wie ein Ketzer, der die Sakramente verweigert.
Dass nun ausgerechnet ein CDU-Politiker – jener Partei, die einst „Verantwortung“ mit Maß und Mitte buchstabierte – von einer Million Mann Bundeswehr spricht, hat fast schon etwas biblisch Zynisches. Eine Million. Man fühlt sich an alte Aufmärsche erinnert, an den manischen Größenwahn vergangener Jahrhunderte, bei denen man dachte: „Sowas kann nie wieder passieren. Dafür sind wir heute zu aufgeklärt.“ Nun ja. Offenbar nicht. Offenbar ist der Krieg, so wie man ihn heute denkt, ein identitätsstiftender Raum geworden: Wer kämpft, gehört dazu. Wer zweifelt, wird ausgebürgert – moralisch, gesellschaftlich, irgendwann vielleicht auch juristisch.
Der Kanzler als Schweigeritter, die Opposition als Einpeitscher
In der Groteske unserer Gegenwart muss man nicht mehr zwischen Regierung und Opposition unterscheiden, sondern zwischen Grad und Art der Panik. Der Kanzler schweigt sich durch die Apokalypse, als säße er beim Zahnarzt ohne Betäubung, während Teile der CDU mit feuchten Augen vom „neuen Wehrwillen“ sprechen – ein Begriff, der klingt wie aus einer schlecht restaurierten Wehrmachtsbroschüre entnommen. Wer heute zur Besonnenheit mahnt, wird als Schwächling diffamiert, als Putin-Versteher, als Sicherheitsrisiko. Krieg ist der neue Bürgertest: Wer bereit ist, den eigenen Sohn an die Front zu schicken, darf mitreden. Wer stattdessen lieber noch mal nachfragt, ob es nicht vielleicht doch einen anderen Weg gäbe, wird zur persona non grata erklärt. „Unsolidarisch“, „verantwortungslos“, „fünfte Kolonne“. Die neue Inquisition hat Uniform, Ukraine-Flagge und Twitteraccount.
Der Soldat als Menschenmaterial – und sonst nichts
Wenn Politiker von „5000 Gefallenen pro Tag“ sprechen, dann verrät das nicht nur einen Mangel an Empathie, sondern auch eine Denkweise, die den Menschen nicht als Bürger, nicht als Subjekt, sondern als Ressource betrachtet. Menschenmaterial. Ein Begriff, der offiziell nicht mehr verwendet wird, aber in diesen Äußerungen latent mitschwingt. Was zählt, ist die Masse, die Verfügbarkeit, die Entbehrlichkeit. In dieser Logik muss die Bundeswehr aufgestockt werden – nicht, weil man ein Sicherheitskonzept hätte, sondern weil man glaubt, man müsse sich „wappnen“. Wappnen wofür? Für den Dritten Weltkrieg? Für eine Rückeroberung von Donezk durch Bad Reichenhall? Für das gute Gefühl, „etwas getan zu haben“ – auch wenn es am Ende bloß ein kollektiver Suizid mit Ankündigung ist?
Historische Amnesie als Staatsraison
Dass gerade Deutschland, das Land mit der gründlichsten Aufarbeitung aller Zeiten, offenbar nichts aus der eigenen Geschichte gelernt hat, ist nicht nur tragisch, es ist absurd. Als hätte man das gesamte zwanzigste Jahrhundert durchgearbeitet – nur um am Ende zu dem Schluss zu kommen: „Vielleicht hätten wir damals einfach noch mehr Leute einziehen sollen.“ Wo einst „Nie wieder Krieg“ das kategorische Imperativ der Außenpolitik war, wird heute mit „Mut zur Härte“ geworben. „Wehrhaftigkeit“, „Verteidigungsetat“, „Kriegstüchtigkeit“ – Wörter, die man so lange nicht mehr hören wollte, bis man sie irgendwann wieder sexy fand. Und wer das nicht mitmacht, der wird als gestriger Träumer verlacht, als störenfried im Maschinenraum der Moralität.
Pointe ohne Trost – aber mit Klarheit
Und so kommt es, dass wir jetzt dort stehen, wo wir niemals wieder stehen wollten: An einem Punkt, an dem Politiker wieder anfangen, mit Toten zu rechnen, als wären sie Posten in einem Excel-Sheet. An einem Punkt, an dem Aufrüstung als Selbstzweck gilt, als moralisches Gebot, als heilige Pflicht. Und niemand hält inne. Niemand sagt: Stopp. Was tun wir hier eigentlich? Stattdessen marschieren sie weiter – nicht mit Stiefeln, sondern mit wohlmeinenden Hashtags. Nicht mit Stahlhelmen, sondern mit der Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.
Nur dass Geschichte – wie wir wissen sollten – keine Seiten kennt. Sie kennt nur Konsequenzen.