
Der Zeitgeist und sein semantischer Kuhhandel
Es ist eine der beliebtesten Disziplinen unserer Gegenwart: das kategorische Verwischen von Grenzen, das große Einebnen, das Abschleifen aller Unterschiede – semantisch, politisch, moralisch. In Zeiten, in denen jede noch so komplexe Frage auf das Format eines Tweets eingedampft wird und jeder zweite Diskurs an der ideologischen Selbstverpflichtung zur Vereinfachung scheitert, geschieht das, was zwangsläufig geschehen muss: Das Unvergleichbare wird verglichen, das Unvereinbare vereint, das Untrennbare zwangsverheiratet. Und niemand merkt’s – oder schlimmer noch: Niemand will’s merken.
Da steht also nun der klamme Begriff „Migration“, der im Grunde nichts weiter bedeutet als: „Menschen bewegen sich irgendwohin“. Ein konturloser Terminus, wie geschaffen für eine Welt, die sich nach Auflösung sehnt. Er umfasst alles und nichts, vom Rentnerpaar, das in die Toskana zieht, bis zum syrischen Arzt, der im gummibereiften Schlauchboot der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX die Hand zum Winken hebt. Migration – ein Wort so vage wie das Versprechen, das es begleiten soll.
Und dann, als Gegenstück, das sperrige, schmerzhafte Wort „Flucht“. Ein Begriff mit Schweiß auf der Stirn, Angst im Blick und einem Rucksack, der kaum mehr fasst als ein bisschen Brot und ein Handy mit leerem Akku. Flucht ist nicht der Traum vom besseren Leben, sondern die nackte Panik vor dem baldigen Tod. Wer flieht, der entscheidet nicht, der wird entschieden.
Doch der Zeitgeist, der große Gleichmacher, kennt keine Unterschiede mehr. Er serviert uns beides im selben Satz, als seien es siamesische Zwillinge der Globalisierung. Migration und Flucht. Als Paarlauf, als Zwillingsgeburt, als Synonympaare für die großen Menschheitsbewegungen des 21. Jahrhunderts. Hauptsache keiner fühlt sich ausgeschlossen. Hauptsache niemand muss nachdenken.
Die moralische Mogelpackung: Wer differenziert, verliert
Das große Missverständnis hat Methode, denn Differenzierung ist anstrengend und steht im Ruf, den Spaß an der moralischen Selbstüberhöhung zu verderben. Wer unterscheidet, gerät schnell in den Verdacht der Kälte. Wer sagt: „Das eine ist Flucht, das andere ist Migration“, wird von der Sprachpolizei der Empörungsindustrie bereits mit einem Bein in der populistischen Besenkammer verortet.
Also wird getan, was in postfaktischen Zeiten üblich ist: Man wirft alles in denselben Topf, rührt kräftig um und nennt das Ergebnis dann „Solidarität“. Wer aus Nigeria kommt, weil er hofft, als Influencer mit dem Thema „Herrenmode und Proteinshakes“ den deutschen TikTok-Markt zu erobern, wird im selben Atemzug bedacht wie die Frau aus Homs, die auf der Flucht vor Fassbomben ihr Kind im Schlepptau trägt. Alles Migration. Alles menschliche Mobilität. Alles irgendwie gleich schlimm. Oder gleich gut. Oder gleich gültig.
Es ist der moralische Ramschladen der Neuzeit: Alles muss raus, auch die Unterschiede.
Die Erpressungsrhetorik: Wer helfen will, muss lügen
Wer ernsthaft helfen möchte, steht in einem perfiden Dilemma. Er muss lügen, um helfen zu dürfen. Denn wer sagt: „Wir sollten Flüchtlinge aufnehmen, aber nicht jeden, der aus freien Stücken sein Heimatland verlässt“, der wird sofort der Unmenschlichkeit geziehen. Also bleibt nur der rhetorische Trick, den alle beherrschen, weil sie ihn täglich trainieren: Man tut so, als wäre jeder Migrant ein Flüchtling.
Das ist praktisch. Es spart Debatten. Es erspart den Journalisten, in Talkshows unbequeme Nachfragen zu stellen. Es erspart den Politikern, differenzierte Gesetze zu schreiben. Und es ermöglicht es all den wohlmeinenden Bürgern, mit dem guten Gefühl der grenzenlosen Hilfsbereitschaft ins Bett zu gehen, ohne sich mit der schmutzigen Realität auseinandersetzen zu müssen.
Dass man damit die echten Flüchtlinge verrät – geschenkt. Die eigentlichen Opfer dieser Gleichmacherei sind nämlich jene, die tatsächlich fliehen. Denn wer den Begriff der Flucht ausweitet wie einen ausgeleierten Wollpulli, der entwertet ihn. Er macht aus einer existenziellen Notlage ein globales Wunschkonzert.
Der geopolitische Gemischtwarenladen: Willkommen im „Everything Goes“
„Push-Faktoren“ nennen das die Geostrategen, wenn Menschen aus prekären Situationen ihr Heil anderswo suchen. „Pull-Faktoren“, wenn es um die Verlockungen der besseren Welt geht: stabile Sozialsysteme, Krankenversicherung ab dem ersten Tag, Mietzuschüsse, Netflix-Flatrates und Mindestlohn bei McDonald’s.
Beides zusammen ergibt eine Weltkarte der Wanderungsbewegungen, die sich nicht mehr mit den Begriffen der Nachkriegszeit erklären lässt. Aber erklären will das auch niemand. Stattdessen flüchtet man – welch Ironie – in die wohlige Umarmung der Begriffsverwirrung.
Das Ergebnis: Ein afrikanischer Student, der sich mit gefälschtem Pass als syrischer Kriegsflüchtling ausgibt, wird an der Grenze freundlich begrüßt, denn zu prüfen wäre diskriminierend, und zu unterscheiden wäre unmenschlich.
Das nennt man dann „Willkommenskultur“. Oder neuerdings auch: „Einreiseoptimismus“.
Die Wohltätigkeits-Industrie: Ein Geschäft mit der Vermengung
Der moralische Ablasshandel hat längst Konjunktur. Es gibt NGOs, die mit jeder eingesammelten Spende ihre Geschäftsgrundlage weiter festigen. Es gibt Thinktanks, die mit jedem verfassten Papier zur Gleichsetzung von Flucht und Migration ihre Budgets sichern. Es gibt Parteien, die aus der Haltung Kapital schlagen, weil sie Inhalte längst gegen Gesinnung getauscht haben.
In dieser neuen Weltordnung der Sprachvernebelung wird nicht mehr gefragt, ob jemand vor Bomben flieht oder vor Langeweile. Hauptsache, er kommt. Hauptsache, er wird hier zur Nummer im Statistik-Diagramm. Hauptsache, der große moralische Maschendrahtzaun wird noch einmal ein Stück höher gezogen, damit keiner drüberklettert und fragt, was da eigentlich wirklich passiert.
Der satirische Nachsatz: Ein Vorschlag zur Güte
Vielleicht sollten wir konsequent sein und alle Menschen weltweit einfach prophylaktisch zu Flüchtlingen erklären. Jeder, der nicht da bleibt, wo er geboren wurde, ist dann per Definition auf der Flucht – vor irgendwas wird er schon fliehen. Vor dem Wetter, vor der Schwiegermutter, vor Netflix-Langweile, vor zu kleinen Wohnungen oder zu großen Problemen.
Und sollten die Deutschen mal wieder ans Mittelmeer fahren, dann nennen wir das bitte nicht mehr „Urlaub“, sondern „Erholungsasyl“. Wer nach Österreich zieht, um der deutschen Bürokratie zu entkommen, ist ab sofort ein „Bürokratieflüchtling“. Wer aus München nach Leipzig umzieht, weil es dort günstiger ist, wird zum „Mietpreisexilanten“.
Und wer in Talkshows weiterhin von Migration spricht, obwohl er Flucht meint, der ist dann eben: ein Wahrheitsflüchtling.
Moral der Geschichte:
Wer nicht mehr unterscheidet, kann irgendwann nichts mehr begreifen. Und wer nichts mehr begreift, der kann auch nicht mehr helfen. Aber immerhin kann er sich auf die Schulter klopfen. Das ist ja auch was.