I. Die neue deutsche Tugend: Klicken statt Denken
Es war einmal ein Land, das nach 1945 beschwor, nie wieder dürfe Angst den öffentlichen Raum regieren. Und tatsächlich: Deutschland wurde zum Musterknaben des Rechtsstaats, zum Hüter der Würde, zum Land, in dem selbst ein Autokennzeichen mit „H-KZ“ mehr Empörung auslöst als jede Steuererhöhung.
Doch irgendwo zwischen Klimadiskurs, Pandemiepanik und Haltungsjournalismus hat sich eine neue, subtilere Angst eingeschlichen: die Angst vor der falschen Meinung.
Nicht mehr der Staat verbietet, sondern die Gesellschaft selbst – mit digitaler Selbstgerechtigkeit, flankiert von staatlich abgesegneten Meldeportalen.
So auch im Fall Prof. Dr. Norbert Bolz, Kommunikationswissenschaftler, Medienintellektueller, bekennender Konservativer – also, nach heutigem Verständnis, eine Art intellektueller Hochrisikofall.
Ein anonymer Hinweis über „Hessen gegen Hetze“ genügte, und schon stand der Staat vor der Tür. Kein Terrornetzwerk, kein Aufruf zur Gewalt – nur ein Verdacht, ein Klick, ein Algorithmus im Dienste der Tugend.
Man könnte es fast für Satire halten, wäre es nicht real.
II. Hessen gegen Hetze – Die Rückkehr der moralischen Denunziation
Die Idee hinter dem Portal ist so simpel wie gefährlich: Jeder kann melden, was ihm „nach Hetze aussieht“. Kein Beweis nötig, kein Name, keine Verantwortung.
Ein digitaler Pranger mit dem Etikett der Bürgerbeteiligung – der Traum aller Kontrolleure, die den Bürger lieber als Untertan denn als Mitdenker sehen.
Das System erinnert an alte, dunkle Instinkte: an das Misstrauen als soziale Klammer, an die Genugtuung des Meldens, an die süße Versuchung, sich durch moralische Empörung über andere zu erhöhen.
Der Blockwart 2.0 trägt keinen Trenchcoat mehr, sondern ein Profilbild mit Regenbogenrahmen.
Dass ausgerechnet ein Land mit deutscher Geschichte solch ein System wiederbelebt, hat eine bittere Ironie. Einst waren anonyme Anzeigen das Werkzeug totalitärer Systeme – heute nennt man sie „Engagement gegen Hass“.
Und so öffnet sich ein altbekanntes Tor: das Tor zur Tyrannei der Guten.
III. Meinungsfreiheit, das missverstandene Grundrecht
Artikel 5 des Grundgesetzes – dieses hochverehrte, oft zitierte, selten verstandene Juwel – garantiert jedem das Recht, seine Meinung frei zu äußern.
Doch die Freiheit der Meinung ist kein Schönwetterrecht. Sie gilt gerade dann, wenn Meinungen unbequem, provokant oder dumm sind.
Natürlich hat sie Grenzen – Schmähkritik, Beleidigung, Volksverhetzung. Aber diese Grenzen sind eng gezogen, bewusst eng, weil die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten, was passiert, wenn man den Staat zum Schiedsrichter des Denkens macht.
Die heutige Praxis jedoch dreht das Verhältnis um: Nicht mehr der Staat muss beweisen, dass eine Äußerung keine Meinung, sondern eine Straftat ist – der Bürger muss hoffen, dass sein Satz nicht „anders verstanden“ wird.
Damit verwandelt sich ein Abwehrrecht gegen den Staat in ein Genehmigungssystem der Gesinnung.
IV. Die schleichende Erosion des Rechtsstaats
Hausdurchsuchungen sind keine Bagatellen. Sie greifen tief in die Grundrechte ein – in die Unverletzlichkeit der Wohnung, in die Privatsphäre, in die Würde.
Dass sie auf Grundlage anonymer Meldungen erfolgen können, ist ein Symptom jener Erosion, die langsam, leise und unter Applaus der Wohlmeinenden fortschreitet.
Juristisch betrachtet ist das absurd: Der anonyme Hinweis ersetzt keine richterliche Begründung, kein Tatverdacht darf allein daraus erwachsen. Doch in der Praxis reicht oft der moralische Druck – die Angst, „nicht zu handeln“.
Der Rechtsstaat knickt nicht unter Gewalt ein, sondern unter Empörung.
Und während man früher noch Akten studierte, um Recht zu sprechen, reicht heute ein Screenshot aus einem Forum, ein anonymer Upload, ein „Verdacht auf Hetze“.
Das ist kein Fortschritt – das ist der Rückfall in das Vorrecht der Vermutung.
V. Ein Blick zurück: Geschichte als Lehrerin, die keiner hören will
Wer glaubt, Denunziation sei ein archaisches Relikt, möge sich erinnern:
- In der DDR hieß es „IM-Bericht“,
- im Dritten Reich „Volksgemeinschaftliche Meldung“,
- und im digitalen Zeitalter: „Hessen gegen Hetze“.
Das Muster bleibt dasselbe, nur die Rhetorik wechselt. Früher diente es der „Volkshygiene“, heute der „Diskurshygiene“.
In beiden Fällen aber gilt: Der Staat nutzt die Bürger, um Kontrolle über andere Bürger auszuüben – unter dem Deckmantel des Guten.
Gerade deshalb war das Grundgesetz so weise: Es baute Schranken ein, die verhindern sollten, dass sich das Rad der Geschichte erneut dreht.
Doch der neue Denunziant hält sich nicht für Werkzeug, sondern für Held.
Er meldet nicht, weil er fürchtet – er meldet, weil er glaubt.
VI. Das gefährliche Spiel mit der „Zivilgesellschaft“
Ein weiteres Lieblingswort dieser Zeit lautet: Zivilgesellschaft.
Ein so schönes, rundes Wort – wie „Klimaneutralität“ oder „Solidaritätszuschlag“. Es klingt immer gut, egal, was es bedeutet.
In Wahrheit dient es heute oft als Tarnkappe für staatlich alimentierte Aktivismusstrukturen, die unter dem Mantel des Engagements das tun, was der Staat selbst nicht darf: moralische Selektion.
Wer „gegen Hetze“ kämpft, braucht Feinde. Und wer Feinde braucht, findet sie auch. So entsteht eine Industrie der Empörung, eine Infrastruktur der moralischen Aufrüstung.
Der Preis: die Verwandlung der Öffentlichkeit in ein Tribunal.
VII. Der Staat der Verdächtigen
Das Vertrauen, das einst die Basis des Rechtsstaats bildete, schwindet. Stattdessen wächst ein paternalistisches System des Misstrauens, in dem Bürger nicht mehr Partner, sondern Beobachtungsobjekte sind.
Jeder Klick wird zum potenziellen Beweis, jedes Wort zur Spur im Raster.
Das ist keine Dystopie, das ist Realität – nur freundlich lächelnd präsentiert.
Man nennt es „digitale Zivilcourage“, weil „gesellschaftliche Überwachung“ nicht gut auf die Plakatwand passt.
Doch wenn der Staat die Bürger misstrauisch beäugt und sie sich gegenseitig melden, dann ist die Demokratie nicht gestärkt, sondern entkernt.
VIII. Die wahre Prävention: Bildung, Debatte, Vernunft
Es gibt Alternativen. Sie heißen nicht „Portal“, sondern „Polizei“. Nicht „anonymer Hinweis“, sondern „rechtsstaatliches Verfahren“.
Und vor allem: Bildung.
Denn wer gelernt hat zu denken, braucht keine Meldeplattform, um Hetze zu erkennen.
Der Staat sollte in Medienkompetenz investieren, nicht in digitale Pranger. In Vertrauen, nicht in Kontrolle.
Denn Freiheit gedeiht nicht im Schatten des Verdachts, sondern im Licht des offenen Streits.
IX. Epilog: Freiheit als Zumutung
Der Fall Bolz ist mehr als ein Einzelfall. Er ist ein Spiegel. Und das Spiegelbild zeigt eine Gesellschaft, die sich selbst misstraut – und darin gefährlicher ist als jeder „Hassredner“.
Freiheit ist unbequem. Sie riecht, sie kratzt, sie beleidigt den Geschmack. Aber sie ist das Einzige, was den Bürger vom Untertan unterscheidet.
Mehr Freiheit, mehr Rechtsstaat, weniger Misstrauen.
Oder, um es in aller Polemik zu sagen:
Wenn schon Denunziation, dann wenigstens offen – mit Namen, mit Gesicht, mit Rückgrat.
Alles andere ist feige Moral mit WLAN-Anschluss.