Der böse Wolf

Eine Geschichte von Stolz, Nationalismus und der ewigen Suche nach einem Feind

Es gibt wenige Tiere, die in der Menschheitsgeschichte eine so zwiespältige Rolle gespielt haben wie der Wolf. Mal wird er als mutiger Einzelkämpfer und Symbol der Stärke verehrt, dann wieder als listiger Dieb und gefährlicher Räuber verteufelt. Diese Ambivalenz hat den Wolf nicht nur in Märchen und Sagen zu einer archetypischen Figur gemacht, sondern auch in der modernen politischen Symbolik, wie jüngst der Fall Merih Demiral und der „Wolfsgruß“ eindrucksvoll beweist. Man muss sich nur die Mühe machen, die pawlowschen Reflexe der öffentlichen Empörung kurz beiseitezulegen, um den Wolfsgruß in seiner kulturellen Komplexität und moralischen Schlichtheit zu betrachten. Doch wer hat heutzutage noch Zeit für differenzierte Betrachtungen?

Die Kunst des Aufmerksamkeitsmanagements

Fangen wir bei der Statue an. Bolu, eine Stadt, von der die meisten Menschen nicht einmal wissen, wo sie liegt, hat sich entschieden, ihrem Sohn Merih Demiral ein Denkmal zu setzen. Man könnte sagen, dass dies eine klassische Aktion in der endlosen Liste von Nationalheldenverehrungen ist. Das Denkmal soll Demirals „Wolfsgruß“ zelebrieren – eine Geste, die in den meisten Teilen der westlichen Welt als Symbol des türkischen Rechtsextremismus bekannt ist. Man könnte sich fragen: Wie kommt man auf die Idee, einen derart umstrittenen Gruß in Bronze zu gießen? Doch die Antwort ist so offensichtlich wie trivial: Aufmerksamkeit.

Bolu und sein nationalistischer Bürgermeister Tanju Özcan haben das Rezept für die moderne Mediengesellschaft durchschaut. Es ist nicht mehr wichtig, ob du positiv oder negativ auffällst – Hauptsache, du fällst auf. In einer Welt, in der die Aufmerksamkeitsspanne kürzer ist als der Wimpernschlag eines betäubten Eichhörnchens, ist es die Provokation, die zählt. Also warum nicht eine Statue aufstellen, die die Emotionen zum Kochen bringt? Schließlich ist Skandal das neue Gold. Man darf sich dabei nur nicht von der moralischen Überlegenheit des sich empörenden Publikums täuschen lassen. Denn auch Empörung kann schal schmecken, wenn sie bloß ein Mittel ist, um die eigene Langeweile zu bekämpfen.

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Von grauen Wölfen und schwarzen Schafen

Die Symbolik des Wolfes zieht sich tief durch die Geschichte der Türkei. Die „Grauen Wölfe“, eine nationalistische Bewegung, deren Handzeichen Demiral zur EM prägte, sehen sich in der Tradition des urtürkischen Erbes. Hier greift die Mythologie des Gründungsmythos der Türken: Der Wolf als Führer der frühen Völker durch die Steppe, ein Anführer, stark und unbarmherzig. Doch in der Neuzeit ist der Wolf weniger ein Symbol der Führung als vielmehr ein Maskottchen des Nationalismus geworden, der seine Zähne an den Rändern der Gesellschaft zeigt – bevorzugt an Minderheiten, Flüchtlingen und allem, was nicht in das verklärte Bild des „reinen“ Türkentums passt. Da drängt sich die Frage auf: Warum ist der Wolf immer noch so attraktiv?

Die Antwort darauf liegt in seiner Simplizität. Der Wolf ist kein komplexes Symbol, er verlangt keine tiefgehende Auseinandersetzung. Er ist ein klares Zeichen: „Wir gegen die.“ Er bietet das Versprechen von Identität in einer chaotischen Welt. In einer Zeit, in der Unsicherheiten dominieren, greifen die Menschen nach einfachen Symbolen. Und was könnte einfacher sein, als ein Raubtier, das klar zwischen Freund und Feind unterscheidet? Dass dabei die zivilisatorischen Zwischentöne verloren gehen, wird gerne übersehen. Wölfe bellen nicht. Sie beißen.

Der Wolf und der Schafspelz

Bürgermeister Özcan, der Mann hinter der Statue, hat öffentlich erklärt, dass der Wolfsgruß nichts mit der MHP oder den Grauen Wölfen zu tun habe. Es sei vielmehr ein Symbol des „Türkentums“. Wer so argumentiert, betreibt Geschichtsrevisionismus mit einem Augenzwinkern. Man stelle sich vor, jemand würde behaupten, das Hakenkreuz sei in Wahrheit ein Symbol der Hindu-Kultur (was es ursprünglich war) und habe nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun. Diese Verdrehung der Realität ist so offensichtlich, dass es fast bewundernswert ist, wie sie mit der Selbstsicherheit eines Politikers vorgetragen wird, der nicht an der Realität interessiert ist, sondern an der Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung.

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Die Tatsache, dass Demiral der Statue zugestimmt hat, zeigt, dass auch er bereit ist, sich in dieses Netz der Verharmlosung einzuweben. Warum auch nicht? Schließlich ist es bequem, sich als unschuldiges Opfer einer missverstandenen Geste zu inszenieren. Und wer könnte ihm das verdenken, in einer Welt, in der der Widerspruch zwischen öffentlich gezeigtem Gesicht und privater Gesinnung zur Norm geworden ist? Es ist das uralte Spiel von Imagepflege und Ablenkung, nur diesmal in Bronze gegossen.

Die Macht der Verklärung

In Bolu wird Demiral nicht nur als Nationalheld gefeiert, sondern als Verkörperung eines stolzen und kämpferischen Türkentums. Der Wolfsgruß wird zum Symbol dieses Stolzes erhoben – eine stolze Brust, ein durchdringender Blick, und da ist sie: die Faust, die sich zur Geste der Zugehörigkeit erhebt. Die Botschaft? Wir sind hier, wir sind stark, und wir lassen uns nicht unterkriegen. Man könnte darüber spotten, aber das wäre zu einfach.

Denn hinter dieser Verklärung steckt mehr. Der Wolfsgruß ist nicht nur eine Geste, er ist ein Versprechen. Er verspricht Identität und Zugehörigkeit in einer Welt, die zunehmend fragmentiert ist. Nationalismus mag eine gefährliche Ideologie sein, doch er erfüllt ein grundlegendes menschliches Bedürfnis: das Bedürfnis nach Klarheit in einer komplexen Welt. Hier gibt es keine Grauzonen, nur Schwarz und Weiß. Der Wolf kennt keine Zweifel.

Doch dieser Held der Einfachheit ist zugleich eine tragische Figur. Denn während der Wolf nach außen Stärke demonstriert, zeugt seine Existenz in Wahrheit von Schwäche. Wer sich so sehr an seine Identität klammert, dass er bereit ist, sie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, der zeigt nur, wie brüchig diese Identität ist. Der Wolf, das stolze Raubtier, ist nichts weiter als ein verängstigtes Tier, das in die Ecke gedrängt wurde und um sein Überleben kämpft. Doch wer wird das schon zugeben?

Wolf im Spiegel

Am Ende bleibt die Frage: Was sagt dieser Fall über uns aus, über unsere Gesellschaften, über unsere Zeit? Der böse Wolf, so scheint es, ist nicht nur ein Symbol der türkischen Politik. Er ist ein Spiegelbild unserer globalen Unsicherheit. Wir alle sehnen uns nach einfachen Antworten, nach klaren Feinden, nach Symbolen, die uns Halt geben. Doch dieser Halt ist eine Illusion. Der Wolf ist kein Feind, er ist eine Projektion unserer Ängste.

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Merih Demiral, Bolu, Tanju Özcan – sie alle spielen nur ihre Rollen in einem größeren Drama, das wir alle mitgestalten. Der böse Wolf ist am Ende nicht mehr als eine Geschichte, die wir uns erzählen, um die Leere zu füllen, die uns umgibt. Vielleicht sollten wir aufhören, den Wolf zu verteufeln, und stattdessen fragen, warum wir überhaupt nach ihm suchen.


Quellen und weiterführende Links:

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