
Es war einmal ein Staatswesen, das sich stolz „Demokratie“ nannte. Eine behäbige, aber liebenswürdige alte Tante, die einst, in den Tagen ihrer Jugend, den Bürgern versprach, dass ihre Stimmen den Lauf der Welt bestimmen würden. Sie war umgeben von Institutionen, die wie Kinder unterschiedlicher Väter wirkten: das Parlament (volkstümlich, manchmal etwas ungezogen), die Regierung (geschäftig, gern am Telefon) und – im Hintergrund, damals noch in diskreter Zurückhaltung – die Gerichte und die Wissenschaft. Doch wie in jeder alternden Familie haben sich die Rollen verschoben: Heute tritt die Tante nur noch selten auf, spricht, wenn überhaupt, in vorbereiteten Phrasen, und während sie nach Atem ringt, haben ihre einst stillen Kinder das Regiment übernommen. Die Frage, die sich aufdrängt, lautet: Wozu noch Parlamente, wenn Gerichte und „die Wissenschaft“ längst das Programm schreiben und die Pointen verteilen?
Die Robe als Gesetzgeber
Beginnen wir mit dem ersten neuen Machtzentrum: der Gerichtsbarkeit. Früher waren Richter so etwas wie Schiedsrichter in einem Spiel, dessen Regeln das Parlament aufgestellt hatte. Heute wirken sie eher wie Drehbuchautoren, die mitten in der Vorstellung den Plot umschreiben. Das jüngste Lieblingsgenre heißt „Migration“. Die Legislative mag Gesetze erlassen – doch das ist nur das Rohmaterial, das im Gerichtssaal zu einem völlig neuen Werk geformt wird.
Das Muster ist bekannt: Die Regierung will Grenzen setzen (ein altmodischer Reflex, vermutlich aus der Zeit, als Landkarten noch dicke schwarze Linien trugen), doch die Robe hebt die Hand und sagt: „Das widerspricht höheren Prinzipien.“ Diese Prinzipien sind oft so elastisch formuliert, dass man aus ihnen sowohl die Notwendigkeit einer restriktiven Politik als auch das Gegenteil ableiten könnte – man entscheidet sich natürlich für das Gegenteil. Das ist keine Willkür, das ist „Rechtsfortbildung“.
Und so werden aus Absichtserklärungen „unveräußerliche Rechte“, aus temporären Maßnahmen „verfassungswidrige Zumutungen“ und aus jeder Debatte im Parlament ein Staffellauf, bei dem der Stab in der ersten Kurve an den Richter übergeben wird. Das Volk schaut derweil von der Tribüne und fragt sich, warum es eigentlich Steuern für Abgeordnete zahlt, deren Gesetze eine Halbwertszeit kürzer als die eines Social-Media-Trends haben.
Die Laborkittel-Monarchie
Das zweite Machtzentrum trägt keine Robe, sondern einen weißen Kittel. „Die Wissenschaft“ – oder genauer: das, was man in der Öffentlichkeit dafür hält – hat es geschafft, sich als überparteiliche Instanz zu inszenieren, die jenseits aller politischen Auseinandersetzung thront. Wer ihr widerspricht, steht unter dem Verdacht der Häresie. Ihr gegenwärtiges Hauptthema ist der „Klimawandel“.
Früher galt: Wissenschaft liefert Daten, Politik entscheidet. Heute gilt: Wissenschaft liefert Entscheidungen, Politik liefert Rechtfertigungen. Der Abgeordnete, der einst in einer hitzigen Debatte argumentierte, ist nun zu einer Art Pressesprecher der Naturgesetze geworden. Er darf ankündigen, was „die Wissenschaft“ beschlossen hat, und vielleicht noch den Zeitpunkt der Pressekonferenz bestimmen – mehr nicht.
Besonders delikat ist, dass „die Wissenschaft“ in der realen Welt nicht das monolithische Wesen ist, als das sie präsentiert wird. Sie ist ein brodelnder Diskurs, in dem Hypothesen, Annahmen und Interpretationen aufeinanderprallen. Doch in der politischen Nutzung wird daraus eine einzige Stimme – zufällig immer jene, die zur Agenda passt. Man könnte sagen: Wir erleben eine Theokratie, nur dass die Priester Laborbrillen tragen und das Hohe Lied der Peer-Review-Studie singen.
Die Exekutive als Erfüllungsgehilfe
Zwischen diesen beiden neuen Souveränen – Robe und Kittel – steht die Exekutive, die Regierung, und schaut wie ein älterer Bruder zu, dem man den Führerschein abgenommen hat. Ihre Aufgabe besteht zunehmend darin, Verordnungen zu formulieren, die schon vor der Verkündung von Gutachten, Gerichtsurteilen und wissenschaftlichen Konsenspapieren vorgeprägt sind.
Minister werden zu Kurieren degradiert: Sie liefern die Post aus, die andere verfasst haben. Manchmal dürfen sie noch den Umschlag wählen, aber niemals den Inhalt des Schreibens ändern. Die Spielräume schrumpfen auf kosmetische Maßnahmen, während die grundlegenden Weichen längst an anderen Orten gestellt werden. Wer jetzt noch vom „Primat der Politik“ spricht, gleicht einem Schauspieler, der mitten in einer Aufführung „Improvisation!“ ruft, während ihm der Souffleur jeden Satz ins Ohr flüstert.
Das Parlament als Folkloregruppe
Und das Parlament? Es ist zum Theater geworden – allerdings nicht zu einem, in dem das Publikum vor Spannung den Atem anhält. Eher gleicht es einer Folkloregruppe, die historische Bräuche pflegt: hitzige Debatten, lange Reden, Abstimmungen. Doch jeder weiß, dass die eigentlichen Entscheidungen längst anderswo gefallen sind. Die Abgeordneten spielen Demokratie wie man Mittelalter-Märkte spielt: mit authentischen Kostümen, aber ohne echte Pestgefahr.
Das Tragische ist, dass viele Bürger noch immer glauben, hier geschehe die Politik. Sie empören sich über Reden, klatschen bei Zwischenrufen, schreiben empörte Mails an ihre Abgeordneten – und merken nicht, dass diese längst Statisten in einem Stück sind, dessen Drehbuch in anderen Häusern geschrieben wurde. Die wahre Macht hat sich leise und fast unbemerkt verlagert, nicht durch einen Putsch, sondern durch eine schleichende Kompetenzverschiebung, die mit den besten Absichten begann.
Der Bürger als Zaungast
Am Ende bleibt der Bürger übrig – jener Souverän, in dessen Namen all das geschieht. Einst durfte er sich einbilden, durch Wahlen die Richtung zu bestimmen. Heute erinnert er an den Mann, der auf einer historischen Eisenbahnstrecke sitzt und denkt, er steuere den Zug, während in Wirklichkeit ein autonomes System längst Kurs und Geschwindigkeit festgelegt hat. Er darf gelegentlich noch am Hebel ziehen, doch der Hebel ist nur noch Attrappe.
Diese Entmachtung geschieht nicht mit Gewalt, sondern mit einer Mischung aus technokratischer Überzeugungskraft und moralischem Imperativ. Wer fragt, ob vielleicht doch das Parlament entscheiden sollte, gilt schnell als Feind von „Rechtsstaat“ oder „Wissenschaft“. Die Demokratie stirbt nicht in einem Putsch, sie geht in Rente – mit einem feierlichen Applaus und einer Laudatio von denen, die ihre Aufgaben übernommen haben.
Ironie als letzte Bürgerpflicht
Vielleicht ist das alles unvermeidlich. Vielleicht war es naiv zu glauben, dass Parlamente im Zeitalter globaler Krisen, hochkomplexer Wissenschaft und internationaler Rechtsordnungen noch wirklich frei entscheiden könnten. Vielleicht ist die Demokratie einfach ein Nostalgieprojekt – wie Schallplatten, Dampfloks oder handgeschriebene Briefe.
Doch solange die alte Tante noch lebt, könnten wir ihr wenigstens ein würdiges Dasein sichern: Sie muss nicht jeden Tag hart arbeiten, aber sie sollte nicht ganz entmündigt werden. Und wenn wir schon zusehen müssen, wie Robe und Kittel die Bühne übernehmen, sollten wir es mit einem Augenzwinkern tun. Denn wer den Humor verliert, verliert endgültig – und dann bleibt uns nur noch die stille Bewunderung für ein perfekt funktionierendes, völlig demokratieunabhängiges Uhrwerk.