
Erich Mühsam, Bilanz 1913
Das Jahr 1913. Ein Jahr, das den europäischen Staatenkünstlern als letztes Meisterstück ihrer diplomatischen Diplomatie in Erinnerung bleiben sollte. Doch was wäre diese meisterhafte Diplomatie ohne die genüssliche, fast schmerzhafte Ironie der historischen Verflechtungen, die sich in den chaotischen, verzweifelten Versuchen gipfelte, den verunfallten Körper Europas in eine würdige Haltung zu bringen? Mühsam, ein begnadeter Zyniker der alten Schule, blickt zurück und tut das, was wir heute so gerne tun: Er entblößt das bürgerliche Theaterstück, indem er es nicht nur in seiner Unzulänglichkeit beschreibt, sondern es auch gleichzeitig humorvoll in seinen Katastrophen feiert. Die Diplomaten des alten Kontinents sind in seiner Sicht nicht mehr als geschickte Akrobaten eines strahlenden Desasters, die mit einem einzigen Schritt in den Abgrund ihre eigene Unfähigkeit triumphal zur Schau stellen.
Die große Herausforderung des Jahres 1913, von der Mühsam in seinem Essay spricht, war ein globaler Balanceakt, der die Staatskunst an ihre Grenzen brachte – wenn nicht sogar darüber hinaus. Mühsam, dieser weise Historiker der Zukunft, könnte man sagen, schüttelt seine schlaue Feder und streut unermüdlich Salz auf die Wunden der europäischen Großmächte, deren Diplomatie mehr einem zerrissenen Theaterstück gleicht als einem durchdachten geopolitischen Masterplan.
Diplomatie als Staatskunst? Ein oxymoronischer Witz.
Mühsam lässt keinen Zweifel an seiner Meinung: „Europa hat versagt.“ Aber das Versagen ist nicht bloß ein Versehen oder ein misslicher Umstand. Es ist das grandiose Resultat einer sorgfältig arrangierten Farce, in der die Diplomaten wie Schauspieler auf der Bühne tanzen, während das Publikum, bestehend aus den leidenden Völkern, ihnen jedes Wort verübt zuschreit. Die „Staatskunst“, von der wir hier sprechen, ist also nicht etwa ein feinsinnig gewebtes Netz der friedlichen Diplomatie, sondern vielmehr eine dreiste Farce, bei der die Akteure in einem fortwährenden Zustand der Selbstverblendung agieren. Sie glauben, sie sind die Schöpfer der Geschichte, während sie das Chaos nur beschleunigen. Dabei hatten sie – wie immer – den grandiosen Plan im Kopf: Der Weltkrieg als das große Ende des europäischen Staates, als ein Drama, das nur durch den plötzlichen, unerbittlichen Zusammenbruch seiner Protagonisten seinen Höhepunkt erreicht.
Was tat Europa in diesem Jahr? Natürlich, es rüstete auf. Hört sich ja ganz nach einem logisch-weitsichtigen Plan an, oder? Wenn die Welt vor der Katastrophe steht, dann ist das einzige Mittel zur Abwendung dieser Gefahr noch ein größerer Vorrat an Kanonen und Eisenbahnen, mehr Schießpulver und noch größere Kolonnen von Soldaten. Wer sich nicht rüstet, ist nichts anderes als ein naiver Träumer, ein verrückter Idealist, der das arme Europa in den Untergang führen würde. Es war nicht etwa das Schüren von Angst und Hysterie, das die Diplomaten dazu bewegte, sondern ein schlichter Drang nach Machterhalt und einem unerschütterlichen Glauben daran, dass der nächste große Krieg – der unausweichliche Weltkrieg – der einzige Weg war, das Heft des Handelns zu übernehmen.
Die Kriegsangst als Wirtschaftsinstrument: Ein brillantes Scheitern
Und dann – der Witz der Geschichte – kam die Kriegsangst. Sie war die heimliche Waffe, die am meisten zerrüttete, was an Europa noch an Stabilität übrig war. Die Mobilisierung der Armeen und die „vorläufigen“ Truppenbewegungen an den Grenzen waren keinesfalls eine Frage der Vorbereitung auf einen Krieg, sondern ein gigantisches Theaterstück, bei dem die Ungewissheit selbst das größte Kapital war. Denn wenn die Kriegsangst eine Währung war, dann hatte sie das gesamte Wirtschaftsleben längst in den Griff bekommen. Was, so fragt Mühsam, wurde nicht zerstört? Ökonomische Werte? Kulturelle Errungenschaften? Selbst die Menschen selbst? Die Angst, sie war der Motor, der die Maschinen des wirtschaftlichen Untergangs antrieb. Noch lange nach den ersten Schüssen des Weltkriegs, wenn dieser dann ausbrach, würden die Wunden der europäischen Wirtschaft heilen müssen – oder auch nicht. Aber die Zerstörung des Friedens, des gesellschaftlichen Wohlstands und der kulturellen Stabilität war bereits vollzogen. Niemand hatte diesen Zerstörungsprozess je geplant, aber alle hatten ihn forciert.
Staatskunst und Bevölkerung: Wer regiert hier eigentlich?
Dabei war die Kriegsangst nicht nur ein Spiel der Diplomaten und Generäle. Nein, sie fand ihren Weg auch in die Zivilgesellschaft. Die Mobilisierung verschlang nicht nur „die größten Teile aller öffentlichen Mittel“, wie Mühsam sarkastisch bemerkt, sondern auch die Hoffnungen, Wünsche und – man könnte fast sagen – die Seelen der Bevölkerung. Der Bürger, der in den Tagen von 1913 die heilige Propaganda des Staates verfolgt und die Versprechungen von „Frieden durch Stärke“ mit fataler Naivität in sich aufnahm, wurde ein Instrument des großen Kriegsmechanismus. Es ging längst nicht mehr nur um den Erhalt von Heeren, sondern um den Erhalt eines Systems, das nichts anderes mehr kannte als den Glauben an sich selbst.
Doch Mühsam lässt sich nicht täuschen. Der Blick des scharfsinnigen Beobachters zeigt eine Welt, die in ihren letzten Zügen der Vernunft überdrüssig wird. Die Armeen wuchsen, die Verarmung nahm zu, und die diplomatische Kunst zündete in einem verheerenden Feuerball der Hoffnungslosigkeit. Es war der brillante Abschluss eines Jahrzehnts der Selbsttäuschung. Europa hatte – so würde Mühsam sagen – das große Meisterwerk der Staatskunst vollendet: den Weltkrieg.
Der große Narrenstaat: Ein episches Scheitern mit Augenzwinkern
Am Ende bleibt eine bittere, aber beinahe lustige Erkenntnis: Was Europa in den Jahren 1913 an „Wert“ anrichtete, das konnte Jahrzehnten des Friedens nicht mehr einholen. Die Weichen waren gestellt. Die Frage ist nur: Wer zog an diesen Weichen und warum? Mühsam stellt die Frage, ohne sie direkt zu beantworten, denn in seiner Welt ist die Antwort klar: Es waren die Großen, die wahren Künstler des Staates, die ein Meisterstück nach dem anderen schufen – und das Ergebnis war der katastrophale Absturz.
Das Jahr 1913 wird von Mühsam nicht als Wendepunkt, sondern als präziser Blick auf die Unfähigkeit und die Ironie der Staaten bezeichnet, die sich in einem niemals endenden Tanz um Macht und Reichtum verstrickten. Ein Tanz, der mit dem Weltkrieg seinen Höhepunkt fand. Doch dieser Höhepunkt, so sarkastisch und bitter er auch war, brachte auch eine Erkenntnis: Europa konnte nichts anderes tun, als den Marsch in den Abgrund fortzusetzen. Ein Abgrund, der sich mit der Ankündigung des Weltkrieges als nicht mehr vermeidbar darstellte. Und Mühsam, dieser große Kritiker und kluge Humorist, wusste, dass der wahre Humor nur in der völligen Absurdheit der Geschichte lag.
Denn was bleibt von einem Europa, das sich selbst in den Ruin führte? Ein Narrenstaat, der zu den größten Schöpfern seines eigenen Untergangs geworden ist. Ein Europa, das der Staatskunst zu viel Vertrauen schenkte und zu wenig in die Realität blickte. Ein Europa, das auf die große, aber tragische Bühne der Geschichte ging und sein Meisterstück aufführte – mit einem augenzwinkernden Lächeln, das über die Tränen hinweg täuschte.